Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
gedrängt, dass ich ihn begleitete? Ich rechnete damit, dass er etwas Großes, womöglich Unwiderrufliches vorhatte, zu dessen Durchführung er mich brauchte, und sei es nur, um seinen Mut zu schüren.
Ich ließ mir in der Empfangshalle die Adresse der österreichischen Botschaft geben. Ich befreite mit einem Messerchen Joel Spazierers amtliche Identität aus dem Buchdeckel der Österreichisch-Ungarischen Nordpol-Expedition , fuhr zur Ambassade d’Autriche in der Avenue Pierre 1er de Serbie, einem Palais mit Balkongeländern aus gehäkeltem Gusseisen, und bat die Dame am Empfang, den Pass zu verlängern. Er war seit zwei Jahren abgelaufen. Im Gefängnis hatte ich gelernt, dass es weniger kompliziert sei, einen Pass – gemeint war einen gestohlenen oder gefälschten – im Ausland zu verlängern als in der Heimat des in dem Dokument genannten Besitzers. Ich kann das bestätigen. Die Dame fragte mich, wohin ich von Paris aus aufbreche; falls in die USA, würde sie mir in einem Aufwasch das Visum besorgen, ein lieber Freund von ihr arbeite bei der US-Botschaft. Ich fand das sehr aufmerksam und sagte, tatsächlich wolle ich in die Staaten reisen, nach Vicksburg, Mississippi, dort wolle ich einen Freund besuchen. Wir unterhielten uns auf Deutsch; sie sei Tirolerin, vertraute sie mir an, habe in Wien, Istanbul und Rom studiert. Ich sagte ein paar Sätze auf Türkisch und ein paar Sätze auf Italienisch. Sie wurde rot vor Freude. Ich wurde auch rot. Zum ersten Mal in meinem Leben merkte ich, das ich über die Blutzufuhr in meinem Gesicht bestimmen konnte, dass ich rot werden konnte, wenn ich es wollte. Das war, als hätte ich eine weitere Sprache gelernt.
Den Pass holte ich nach zwei Tagen ab. Seine Gültigkeit war um zehn Jahre verlängert worden, bis zum März 1996 , da würde Joel Spazierer siebenundvierzig Jahre alt sein.
Anstatt zu frühstücken, spazierte ich zur Seine hinunter und setzte mich am Beginn des Boulevard Saint-Michel in ein Straßencafé, trank einen großen Café noir und aß ein Croissant dazu, rauchte eine von Gretel Bertuleits Philip Morris , die sie mir fürsorglich auf meinen Koffer gelegt hatte, blätterte im Figaro , las ohne allzu wache Aufmerksamkeit vom französischen Wahlkampf, der anscheinend gerade seinen Höhepunkt erreichte, und war frohgemut, weil meiner Nase viel Riechenswertes geboten wurde – bacon and eggs, geröstete Kaffeebohnen, unbekanntes Damenparfüm, Deux-chevaux-Auspuffgase, Frischgebackenes verschiedener Art, Flieder, obwohl das eigentlich nicht sein konnte Mitte März. Ich unterhielt mich mit einem Ehepaar am Nebentisch, Touristen aus den Ardennen, über den besonders milden Frühling in diesem Jahr, der nach den Bauernregeln ihrer Heimat einen ebenso milden Herbst verspreche. Die beiden waren etwa in meinem Alter, sie hatten drei Kinder, die sie über ihren Urlaub nach Reims zur Mutter des Mannes gebracht hatten, insofern günstig, weil Reims auf halbem Weg zwischen Charleville und Paris liege. Ich rückte den Korbsessel so, dass ich das Gesicht in der Sonne hatte, die erst einen Daumen breit über Notre-Dame stand, streckte die Beine aus und faltete die Finger über meinem Hemd. Die beiden taten es mir nach, unsere drei Beinpaare ragten auf den Gehsteig, sie und er trugen amerikanische Bluejeans, ich eine graue Wollhose von Spengler & Fürst , der ersten Adresse für Maßkonfektionsschneiderei in unserem Land.
Im Café lief das Radio, eine Frauenstimme sang zu elektronisch erzeugten Rhythmen und Klängen:
Et puis Johnny, Johnny serre le vide dans ses bras,
Quand Johnny, Johnny s’éveille, ne la trouve pas.
Et Johnny, Johnny s’égare, ne comprend pas,
Non Johnny, Johnny cette femme n’est plus à toi.
Ich kaufte mir an der Theke eine Packung Zigaretten, gelbe Gitanes , und machte mich auf den Weg zum Eiffelturm.
6
Ich wusste nicht, was Hagen zwischen Petit Déjeuner und Dîner erlebte; ob er tatsächlich Ökobauern aus der Bretagne traf und mit der kanadischen Konkurrenz pokerte oder ob er wie ich durch die Stadt pilgerte, zu Mittag in einer Brasserie ein leckeres Ratatouille aß, die Weißbrotstange brach und hinterher im Weitergehen ein Himbeereis schleckte oder ein Minzeeis (ampelgrün, wie ich bis dahin nie eines geschleckt hatte), ob er sich am Seineufer die Schuhe putzen ließ oder ob er den Enten beim großen Brunnen im Jardin du Luxembourg zuschaute, die, Männchen hinter Weibchen, über die Steinbrüstung marschierten, ins Wasser
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