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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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hüpften und unter dem Schleier der Fontaine hindurchschwammen. Er war bestens gelaunt. Er aß langsam und mit seligem Appetit und mit einem Erstaunen im Gesicht, als entdeckte er auf seinem Teller von Bissen zu Bissen etwas Neues. Und redselig war er. Ohne aufdringlich zu sein. Er respektierte meine gelegentliche Trägheit und hielt es lässig aus, über ein langes Abendessen im Hotel oder in einem der Restaurants am Boulevard Haussmann oder am Montparnasse mir gegenüberzusitzen und mit mir zu schweigen, ohne mich mit Peinlichkeit zu strafen. Meistens aber plapperten wir, morgens wie abends, er mehr als ich, kommentierten, was wir sahen, schmeckten, hörten, was wir gerade in der Zeitung lasen – er hatte nicht die geringsten Schwierigkeiten, französische Zeitungen zu lesen. Über unsere Leute zu Hause sprachen wir nicht und auch nicht über unser Land, und dass er mein Schwiegervater war, der Vater meiner Frau, wenngleich der mir aus Staatsräson beigestellten Frau, der Großvater meines molligen Dortchens, das fiel mir nur einmal ein, da hatten wir uns nachts um eins im Lift des Hotels verabschiedet, vom zweiten in den vierten Stock reichte der Gedanke an seine tatsächliche Rolle in meinem Leben. Bald fragte ich mich auch nicht mehr, was wohl der Grund sei, warum er mich eingeladen hatte, ihn nach Frankreich zu begleiten. Wir, die wir uns in Berlin kaum je in die Augen gerieten, waren hier Kumpels, zwischen denen das allermeiste ausgesprochen war und deren Verbundenheit keine Sensationen nötig hatte.
    Am Ende unserer ersten Woche teilte mir Hagen beim Frühstück mit, dass er heute ein Auto mieten und in die Bretagne fahren wolle.
    »Ich bin dir nicht böse, wenn du in Paris bleibst«, sagte er.
    Zum ersten Mal blickten wir uns etwas länger in die Augen, länger als man es tut, wenn In-die-Augen-Blicken kein eigener Akt sein soll. Keiner von uns hatte die Ambition, über den anderen mehr wissen zu wollen, als der andere mitzuteilen bereit war.
    Hagen besorgte sich über die Rezeption des Hotels einen schwarzen Mercedes 600, Baujahr 1985, mit automatischer Zentralverriegelung, Klimaanlage und weißen Ledersitzen. Er ließ mich eine Runde durch die Stadt fahren. In La Défense stieg ich aus. In acht Tagen würden wir wieder gemeinsam in der Konditorei vom Scribe frühstücken.
    »Acht Uhr?«
    Wir gaben uns die Hand, und ich fuhr mit der Metro zurück ins Quartier Latin und er weiter nach Westen – oder nach Süden – oder nirgendshin.
     
    Ich überließ mich »der Schwerkraft der Großstadt«. Wo hatte ich diesen Ausdruck gelesen? Ein Flaneur war ich, frei, und ich sagte das Wort vor mich hin, wenn ich unten an der Seine entlangging. Ich tat, als wäre ich ein anderer und spräche über einen anderen. »Er«, sagte ich, »ist ein Flaneur, er überlässt sich der Schwerkraft der Großstadt.« Man kann, dachte der Professor für wissenschaftlichen Atheismus an der Humboldt-Universität zu Berlin, man kann getrost ein einzelner unter vielen sein, ohne mit den vielen mehr zu teilen als den aufrechten Gang, die fünf Sinne und noch einiges Erdgebundenes. Ich brauche keinen Verein, keine Partei, kein Land, keine Gesinnung. Ich gewinne nicht dadurch, dass ich die anderen überrage, ich verliere nicht dadurch, dass ich weniger scheine als sie. Wenn alle gleich sind, nämlich eigentlich nichts sind, ist die Freiheit jedes einzelnen unendlich. Hütet euch davor, etwas zu erfinden, wofür es sich zu leben lohnt, denn dafür lohnt es sich auch zu sterben und zu töten. – Eine These wollte ich am Beginn meiner Vorlesung dem Plenum vorgeben (mit leiser Stimme gesprochen, nahe am Mikrophon): Die Welt besteht größtenteils aus nichts; insofern lässt sich schwerlich sagen, ob sie eher dem Himmel oder der Hölle gleicht. Ich schrieb diesen Satz in mein Heft. Konnte sein, dass er von mir stammte, konnte sein, dass er nicht von mir stammte – einerlei! –, ich traute ihm zu, eine Diskussion in Gang zu setzen, die über ein Semester anhielt, so dass ich für ein weiteres halbes Jahr aus dem Schneider war.
    Ich verließ das Hotel, bevor die Sonne über den Dächern war. Bei der Place de la Concorde überquerte ich in den ersten Sonnenstrahlen die Seine und trank in einem Bistro am Quai auf der anderen Seite meinen Kaffee, schlenderte in einem großen Bogen zum Invalidendom, setzte mich im Park auf eine Bank und lobte einen scheckigen Hund, was mir ein liebes Lächeln seiner Besitzerin einbrachte und mein erstes Gespräch

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