Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
aus einer spannenden Sache wie einem Verhör so etwas Langweiliges machen! Weil er sich in seinem georgischen Untermenschenhirn eingebildet hat, dass bei allem, was der Mensch tut, der Mensch einen Zweck damit verfolgt. Das Böse einer Tat liegt im Zweck der Tat, so seine Rede. Ja, schon, ja, schon. Aber dann geht’s los: Warum bist du gerannt? Um den Bus zu kriegen. Warum wolltest du den Bus kriegen? Weil ich in die Apotheke wollte, bevor sie zumacht. Was hast du, blödes Arschloch, in der Apotheke gewollt? Zahnpasta kaufen. Wozu Zahnpasta? Um die Zähne zu putzen. Warum willst du dir deine Scheißzähne putzen? Weil ich schön und gesund bleiben will. Warum will ein Furz wie du schön und gesund bleiben? Um das Leben zu genießen. Verstehst du, András, spätestens an dieser Stelle müsste das Verhör zu Ende sein. Ab mit ihm in das Bagno, wo ihm einzig sein Elend beweist, dass er noch existiert! Aber Berija muss weiterfragen, immer weiterfragen, wie ein Fünfjähriger, dieser Eierkopf hat einfach keinen Sinn für Proportionen gehabt.«
Emil schlug vor, ich solle, wenn ich unten am Wasser die Schiffchen ausprobierte, mich ein wenig verkleiden, und schon wäre ich die Aufwiegler los. Er schickte mir ein paar Sachen, Schnauzbart, Perücke, einen breiten Backenbart gegen meine Sommersprossen, eine gelbe Brille mit gelben Gläsern, einen Hut, der mich älter machte – man glaube nicht, wie viel allein mit einem Hut auszurichten sei. Ich sah sehr fesch aus. Zu Dortchen und Lenchen sagte ich, so sähen Kapitäne aus, die über den Atlantischen Ozean nach Amerika fuhren. Sie glaubten mir nicht, wollten sich aber ebenfalls verkleiden. Lenchen ging als Pippi Langstrumpf, Dortchen als eine Marktfrau mit Kopftüchlein und Schürze. Als Emil davon Bericht bekam, war er so gerührt, dass er unbedingt auch einmal – zweimal – zum See mitgehen wollte. Er verkleidete sich als Opa und teilte sich gerecht auf Lenchen und Dortchen auf. Sie mochten ihn und lachten sich schief, wenn er Arsch, Furz und Scheiße sagte.
Im September fuhren Elsbeth, Lenchen und ich an die Ostsee nach Warnemünde. Aus der Uni war nicht mehr zu erfahren, als dass »mein Fall noch in der Schwebe« sei.
Und er schwebte und schwebte und schwebte.
8
Im selben Jahr unternahm ich eine zweite längere Reise, im Oktober nämlich, diesmal ins sozialistische Ausland, in die Sowjetunion – bei welcher Gelegenheit ich Dr. Birgit Jirtler kennen lernte. Sie war Professorin für Biologie an meiner Universität. Zu Hause in Berlin lagen unsere Büros nur ein paar Flure auseinander, und dennoch waren wir uns nie über den Weg gelaufen. Wer weiß, ob wir uns je begegnet wären, wenn uns nicht ein Leningrader Abenteuer aufeinander gestoßen hätte.
Und wollte ich – angenommen, der Gott forderte irgendwann Abrechnung – alles verschweigen und hineinstopfen in die Höhlen und Kammern und Börsen meiner Lügenexistenz, dieses Abenteuer müsste ich ihm doch erzählen müssen, wahrheitsgetreu.
Ich war zusammen mit Gregor Lenz nach Leningrad gereist – Sie erinnern sich: mein akademischer Mentor. Er war von der russischen Akademie der Wissenschaften eingeladen worden, auf einem internationalen Kongress einen Vortrag über das Frühwerk von Karl Marx zu halten. Gregor hatte mich gebeten, ihn zu begleiten, weil er nur »bröckchenweise« Russisch spreche und verstehe, unter den Kollegen als Folge weit zurückliegender jugendlicher Angeberei aber als einer gelte, der diese Sprache aus dem Effeff meistere; weswegen ihm von den Behörden in Berlin kein Dolmetscher zugeteilt wurde. Meine Reisegenehmigung nach Leningrad besorgte Hung.
Bei den Gesprächen mit den russischen Kollegen, die zwischen den Seminaren stattfanden, diente ich Gregor als Übersetzer – übrigens auch bei den Gesprächen mit den französischen, italienischen und spanischen Kollegen. Seinen Vortrag hielt er auf Deutsch, er wurde synchron in die Kopfhörer der nicht Deutsch sprechenden Teilnehmer übersetzt. Ich war inzwischen gut in Russisch. Ich las jeden Tag in der Prawda und an den Wochenenden in der Literaturnaja Gaseta ; nicht, weil mich die Artikel interessierten, das war sehr selten der Fall, sondern um mich in der Sprache zu schulen. Hung und ich unterhielten uns nur noch entweder auf Russisch oder auf Vietnamesisch. Außerdem belegte ich Kurse in Spanisch und Französisch, damit ich auch in diesen Zungen geschmeidig bliebe – Muße hatte ich ja –, und beschäftigte mich im
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