Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Selbststudium mit der englischen Sprache, was mir ästhetischen Genuss, aber auch Schwierigkeiten bereitete, weil keine Buchhandlung in Berlin Lernmaterial zur Verfügung hatte und die Universität überraschend mau ausgestattet war.
Zur gleichen Zeit wie die philosophische Tagung fand die Schachweltmeisterschaft zwischen Anatoli Karpow und Garri Kasparow statt. Frau Prof. Jirtler war als Meisterin des Schachclubs der Humboldt-Universität zu Berlin von der akademischen Fraktion des Leningrader Schachclubs Michail Botwinnik eingeladen worden, um eventuell für deutsche Fachzeitschriften Kommentare zu schreiben. Sie wohnte im selben Hotel wie Gregor und ich am Zagorodny Prospekt. Die Weltmeisterschaft hatte im Juli in London begonnen und sich über zumeist unentschiedene, enervierend zähe Partien hingezogen. Ich hatte das Turnier mit halber Aufmerksamkeit in der Presse verfolgt und die eine oder andere Partie nachgespielt. Die Begegnung war dank Kasparow vielversprechend originell gestartet, drohte inzwischen aber zu einer der langweiligsten in der Geschichte dieses Sports zu werden. Frau Prof. Jirtler, die mit uns im Hotel frühstückte und mit der ich mich gern über Schach unterhielt und einige Partien ohne Figuren und Brett gespielt und allesamt mit Pauken und Trompeten verloren hatte, fragte mich – nur mich –, ob ich Lust hätte, mir eine Begegnung anzusehen, sie verfüge über vierzig Karten, die sonst in den Gully wanderten. Gregor antwortete, Schach sei auf alle Fälle besser, als von den Kollegen bei schlechtem Russisch erwischt und zu Hause womöglich angeschwärzt zu werden.
Frau Prof. Jirtler war Anfang fünfzig und ledig, sie hatte ein fahles Gesicht, fadige, zu Inseln gebündelte Haare, zwischen denen die Kopfhaut hervorschimmerte, nikotinbraune Finger und nikotinbraune, schiefe Zähne, ein Schneidezahn war in der Hälfte abgebrochen. Sie war groß mit hohem, in den Hüften breitem Hintern, hatte lange dünne Beine und Arme, einen hageren Oberkörper und einen dürren Hals, bei dem wohl die Hälfte der Menschheit ans Würgen denken mochte. Sie redete nicht viel, war misstrauisch, verschluckte Silben, verschlampte Endwörter. Sie hielt Gregor für ein bisschen blöd und amüsierte sich über ihn auf eine hinterhältig schadenfrohe Art, wie ich fand. Und Gregor fürchtete sich vor ihr – vor ihrem möglichen Spott, vor ihrer möglichen cholerischen Hochfahrenheit, vor ihren möglichen Verbindungen, wer weiß wohin; vor dem Konjunktivischen dieser horrend hässlichen Person fürchtete er sich und verhielt sich in ihrer Gegenwart wie ein Hänsel im Käfig der Hexe. Der Gedanke, sie könnte mich ihm wegnehmen, beunruhigte ihn.
Wir hatten uns in der Lobby des Hotels verabredet. Gregor und ich warteten, Frau Prof. Jirtler verspätete sich. Gerade als sie die Treppe herunterkam, fiel Gregor ein, dass es wohl besser wäre, eine Mütze mitzunehmen, die Abende waren empfindlich kalt. Er lief nach oben, wechselte auf den Stufen ein paar Worte mit Frau Prof. Jirtler und winkte mir zu. Das Taxi, das der Portier bestellt hatte und das uns zum Turnier bringen sollte, wartete bereits vor der Tür. Frau Prof. Jirtler brummelte etwas wie, Prof. Lenz sei ein sehr sprunghafter Charakter, er habe ihr auf der Treppe zu verstehen gegeben, er wolle kein Schach sehen, er habe es sich anders überlegt, wir sollten allein fahren. Ich sagte, das könne ich nicht glauben. Sie: Dann solle ich eben auch hierbleiben, sie jedenfalls werde bestimmt nicht länger warten. Ich: Gregor und ich hätten auf sie gewartet, nicht sie auf uns. Sie: Sie hasse solche unfruchtbaren Diskussionen. Sie ging voraus, stieg in den Wagen, ließ die Tür aber offen. Ich folgte ihr. Als das Taxi abfuhr, sah ich Gregor über die Treppe heruntereilen, seine Fellmütze auf dem Kopf, den breiten Fellkragen über den Schultern, sein ratloses Gesicht.
Ihr sei nun ebenfalls die Lust auf Schach vergangen, sagte Frau Prof. Jirtler, ich solle den Taxifahrer anweisen, uns zu einer urigen Kneipe zu fahren, wo man keine Schachtouristen antreffe. Ich sagte, ich bezweifelte, ob es in Leningrad das gebe, was sie unter einer urigen Kneipe verstehe. Aber ich versuchte, das Wort dem Fahrer zu übersetzen, und der gab Gas. Ich war mir nicht sicher, ob er mich richtig verstanden hatte.
Es war erst vier Uhr nachmittags, aber die Stadt zeigte sich nur mehr in Schatten und Umrissen. Zunächst rasten wir über breite Boulevards, wenige Autos waren unterwegs, Fußgänger sah
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