Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Gleichung lautet: 0 = 0.
– Ergo hat Johannes Scotus Eriugena recht: Gott existiert nicht .
– Ergo: Weil die Welt zum größten Teil aus Nichts besteht (Prof. E.-Th. Koch), kann Gott im größten Teil der Welt gefunden werden.
– Der Rest ist das Böse.
So weit ein Auszug aus dem Protokoll meiner Vorlesung im Sommersemester 1986: Gott ist nicht und deshalb ist er .
Das Protokoll wurde von der Stasi einbehalten, bevor es an die Studenten verteilt werden konnte. Hung hat mir eine Kopie davon angefertigt und das Original anschließend an die Advocata für ihr Archiv weitergeleitet. Es handelte sich dabei nicht etwa um die Mitschrift von Aussagen, die ich getätigt hatte. Das Protokoll umfasst eine lose Sammlung von Sätzen jener Studenten, die vorne im Halbkreis saßen und diskutierten, sowie Beiträge aus dem Plenum. Ich habe mich an meinen Vorsatz gehalten und nichts gesagt. Ich habe tatsächlich nicht ein Wort gesagt. Mein minimalistisches Einleitungsstatement – These und Frage – hat Thorsten Grimm vorgelesen, mich dabei imitierend, leise, nahe am Mikrophon. Er hat auch einen ausführlichen Kommentar dazu verfasst, hat ihn vervielfältigt und als Diskussionsgrundlage an die Studenten verteilt. Mein Beitrag bestand einzig darin, vorne in der Mitte des Halbkreises zu sitzen und während der Diskussion von einem zum anderen zu schauen. Ich war ein Avantgardist. Ich provozierte Erwartungen und erfüllte Erwartungen. Nur: In meiner Absicht stand weder das eine noch das andere.
Das Semester war nicht zur Hälfte um, da wurde meine Vorlesung abgesetzt. Von der Universitätsleitung. Den Aushang hatte die Rektorin, Dr. Mechthild Jauch, unterschrieben. Angeführte Begründung: Die Veranstaltung sprenge den akademischen Rahmen.
Ich wurde freigestellt. Bei vollen Bezügen, versteht sich. Ende Sommer würde man weitersehen.
Mir war das sehr recht. Die Diskussionen hatten mich zu langweilen begonnen; die hysterische Aufgeregtheit und die schieläugige Hingabe der Diskutanten waren mir unheimlich. Ich verstand bei den meisten Diskussionsbeiträgen nicht einmal, worum es ging. Nachdem ich genügend Selbstbewusstsein besaß, um nicht zu glauben, dass ich der Dümmste im Saal sei, nahm ich an, dass ein Großteil der Anwesenden ebenfalls nicht wusste, worum es ging, nicht einmal bei ihren eigenen Wortmeldungen. Umso mehr erstaunte mich, dass sich manche Redner und manche Rednerin in Emotionen hineinsteigerten, als gehe es nicht nur um ihr Leben, sondern obendrein um den Sinn desselben – welcher unter Umständen sogar mehr sei als das Leben selbst, wie ich etlichen Beiträgen entnahm. Ich saß vorne, rechts von mir vier Studenten, links von mir vier Studenten, vor mir auf Textilfühlung zwanzig Studenten, und sagte nichts. Wenn ich nur die Brauen hob, ging ein Raunen durch den Saal. Wenn ich mich räusperte, wurde es augenblicklich still. Und alle warteten. Und ich schwieg. Hätte ich irgendetwas gesagt, und wär’s der Weisheit letzter Schluss gewesen, es hätte nicht die Wirkung getan wie mein Schweigen. Sie dürfen mir glauben, es ist sehr, sehr anstrengend, zweieinhalb Stunden stumm auf einem unbequemen Sessel zu sitzen und dabei so ausdruckslos zu bleiben, wie es geformtem Fleisch eben möglich ist. Bei nur zwanzig Minuten Pause. – Ja, ich war den Genossen vom ZK der SED wirklich sehr dankbar, dass sie Rektorin Dr. Jauch den Auftrag erteilt hatten, meine Vorlesung abzusetzen. Ich bat Erich »Emil« Mielke, dies den Genossen mitzuteilen.
Ich hatte Ferien!
Das hieß, ich konnte mich Dortchen und Lenchen widmen. Ich baute Schiffchen. Ich weiß nicht, wie ich darauf gekommen war, auf einmal packte mich eine Lust, Schiffchen zu bauen. Ich wachte früher auf als gewöhnlich und setzte mich im Schlafanzug hin und schnitt aus, faltete und klebte. Meine beiden Mädchen, das Knuddele und das Fädchen, waren begeistert, und es vergingen selten mehr als zehn Minuten, und sie kamen, sich die Äuglein reibend, aus ihren Bettchen geschlichen, schmatzten die letzte Müdigkeit hinunter und setzten sich zu mir, reichten mir, was ich brauchte, als wär ich ein Chirurg und sie meine Assistenzärztinnen. Wenn Clara oder Elsbeth endlich aufstanden und wir gemeinsam frühstückten, aßen Dortchen oder Lenchen und ich unser Marmeladebrot und verzogen dabei unser Gesicht, als wären wir Schwerstarbeiter.
Es wurde ein herrlicher Sommer. An meinen Fingern klebten Heftpflaster, weil ich mich oft genug mit dem Teppichmesser
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