Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
gegenüber feinschmeckerisch ausdrücken. Herr Dr. Martin, selbst durch und durch rätselfrei, meinte das auch: »Die Welt legt sich über dich wie der Ozean über eine Muschel.« Oder: »Alles in der Welt hat einen sorgfältig ausgewählten Sinn.« Ich wusste genau, was er damit sagen wollte. Und ich wusste, er hatte unrecht. (Das wusste ich, lange bevor unser atheistischer Naturgeschichtelehrer am Gymnasium in Feldkirch ein Beispiel nach dem anderen für den Unsinn der Schöpfung aufzählte: »Die Giraffen haben Kreislaufprobleme wie der Mensch, nur um besser an die Blätter heranzukommen, die außer ihnen keiner frisst – wo bitte ist hier ein Sinn?«) Ich habe jeden Tag gelebt, als wäre er ein erster Entwurf. Als gäbe es die Möglichkeit beliebig vieler Korrekturen. Als käme am Abend ein Freund und legte die Hand auf meine Schulter und sagte: Probier es morgen noch einmal. Ich kam in der Nacht vor unser Haus und sah erschrocken den Mond am Ende der Straße. Ich stand auf der Schwelle und starrte zu ihm hinauf. Was tat ich hier? Was hatte ich hier verloren, mit dem Hausschlüssel und dem Wohnungsschlüssel in der Hand? Wie stellt man sich in der Nähe des Urban-Loritz-Platzes das Schicksal vor? Und wie folgt man in der Märzstraße den Vorschriften für ein gutes Leben und wie in der Löhrgasse und wie in der Goldschlagstraße? Als wir in Hietzing bei Herrn Dr. Martin gewohnt hatten, war ich manchmal, wenn mich Moma zum Gemischtwarenladen geschickt hatte oder zum Fleischhauer Einberger, vor einer der Villen stehen geblieben und hatte mir gesagt, du musst nur an der Tür klingeln und eintreten und fragen, ob man dich aufnimmt. Hatte vertraut auf mein Lächeln und die Sommersprossen und die Locken. Ich war ein Kind und doch keines, aber wer wusste das schon. Nehmt mich auf, ich bin verlorengegangen. Sie hätten nicht nein gesagt.
– – ich wollte im Leben jemand sein. Ein Mann mit einem Namen. Dem die Leute alles glauben. Der Papiergeld in den Taschen herumträgt. Der ein gewichtiges Auto fährt. Irgendwann war ich in der Nacht durch die Innenstadt strawanzt, über die Kärntnerstraße, wo die Huren standen und mich fragten, ob ich meine Mama suche, und sagten, sie würden gern von so einem wie mir die Mama sein; da sah ich vor dem Hotel Astoria ein Auto stehen, wie ich noch nie eines gesehen hatte. Es war länger als die anderen und war rot, das Verdeck war nach hinten geklappt, die Windschutzscheibe hatte einen Rahmen aus glänzendem Stahl und bog sich ohne Zwischenverstrebung um die Ecken herum zu den Türen; nur zwei Sitze hatte es, die waren aus weißem Leder. Der Kühlergrill sah aus wie ein Haifischgebiss. Die winzigen Schrammen im Chrom funkelten wie Edelsteine. Das Heck mit der Kofferraumklappe bot so viel Platz, dass man einen Liegestuhl hätte daraufstellen können, und an seinem Ende erhoben sich rechts und links zwei steile Flossen. Die Armaturen waren in dunkles, hochglänzendes Holz eingelassen; da waren ein Spender für fünf einzelne Zigaretten, ein vergoldeter Zigarettenanzünder, eine über dem Beifahrersitz eingehängte Parfümflasche mit Sprühknopf, eine Halterung für zwei Trinkgläser, ein Autoradio mit Sendern Millimeter an Millimeter. Ich beugte mich über die Flanke und legte meine Hände an das Lenkrad, das mit weißem, porösem Leder überzogen war. Hinterher rochen sie nach Rasierwasser, herb und fremd. Auf der Seite des Wagens war ein dunkler Streifen, darauf stand sein Name: Cadillac Eldorado Biarritz. Wie aus einer anderen Welt gesandt, nicht totes Ding, nicht lebendiger Organismus, so ruhte der Cadillac unter einer Laterne, als hätte ihn nicht ein Besitzer darunter geparkt, sondern als wäre die Laterne seinetwegen hierhergestellt worden. Die anderen Autos wahrten respektvollen Abstand vor und hinter ihm. Ich setzte mich auf den Bordstein. Ich wollte ausharren, bis der Besitzer kam, den ich mir als Diener dieses Autos vorstellte, und ihn bitten, mit mir eine Runde zu fahren. Und wenn er mich fragte, warum ich das wünsche, würde ich sagen: Ich habe noch nie etwas so Schönes gesehen wie dieses Auto.
Eines Morgens begleitete ich Moma zum Bäcker – sie war frisch gebadet und in neuen Kleidern und bestens gelaunt in unserem Zimmer erschienen, die anderen schliefen noch –, und als wir am Gürtel entlanggingen, fragte ich sie, ob sie in Herrn Dr. Martin verliebt sei und ob sie von uns weggehen und mit ihm zusammenziehen wolle. Es war kein Vorwurf in meiner Frage.
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