Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
damals gerade einen Monat alt, Selbstmord im Gefängnis am Belgrád rakpart Nr. 5) verhaftet und in die Zentrale des Staatssicherheitsdienstes in der Stalinstraße 60 gebracht und dort von Major György Hajós und Oberst Miklós Bakony (irgendwann 1954 verschwunden und nie mehr aufgetaucht) verhört und von deren Schergen (Identität unbekannt) gefoltert worden war. Ich dachte, ob es ihm vielleicht guttun würde, wenn ich ihm sagte, ich hätte die Märchen des Großwesirs lange Zeit sehr vermisst? – Aber es wäre nicht die Wahrheit gewesen. Warum lügen, wenn man nicht muss.
Moma kam selten. Sie blieb auch über Nacht weg. Opa weinte wieder viel. Er wollte nicht hinaus an die Luft; nicht einmal ans Fenster stellte er sich, obwohl es viel zu sehen gab – Autos, Fußgänger, Fahrradfahrer, Fuhrwerke manchmal. Auch viel zu hören gab es. Vor unserem Zimmer war eine Bushaltestelle, ich hätte die Köpfe der Wartenden berühren können. Ich belauschte Männer, die ihre Frauen miteinander verglichen; Frauen, die über den Körpergeruch ihrer Männer klagten; Schüler, die einander Vokabeln abfragten; zwei Männer mit Hüten, unter denen sie über Politik redeten, was mich beunruhigte. Ein junger Mann pfiff ein Lied, eine junge Frau blies ihren Zigarettenrauch in mein Gesicht hinauf. Ein Paar rechnete in so liebevollen Worten ihr Monatsbudget durch, dass ich es den beiden gleichtun wollte und die Münzen und Scheine unseres Haushaltsgeldes auf meinem Bett ausbreitete. Es war traurig wenig Geld in der Börse! Moma hatte mir die Aufgabe übertragen, die billigsten Läden in der Umgebung zu finden. Aber auch die billigsten Läden waren zu teuer. Ich habe eingekauft und gestohlen. Die guten Sachen habe ich gestohlen, Schokolade, Brausepulver, Bonbons, manchmal eine eingeschnürte Wurst; einmal einen Kranz Bananen – in dieses Geschäft traute ich mich nicht mehr, es lag im 1. Bezirk, ich schob den Kranz unter mein Hemd und rannte durch die Innenstadt und über die lange Mariahilferstraße hinauf bis zum Gürtel und setzte mich in die Halle des Westbahnhofs, um auszuschnaufen, es waren aber zu viele Leute dort, und ich traute mich nicht, eine Banane zu essen, also ging ich nach Hause, und Opa und ich aßen alle auf einmal auf und versprachen einander, den anderen nichts zu verraten. Die Schalen stopfte ich draußen in einen Gully; aber erst, nachdem ich mit den Zähnen das Weiche herausgekratzt hatte.
Opa legte sich am helllichten Tag ins Bett und bat mich, die Rollos herunterzulassen. Es war stockfinster. Das hielt ich höchstens zwei Stunden aus, dann schlich ich mich davon. Das Weinen machte mich außerdem wütend. Es machte uns alle wütend. So kam es, dass ich Opa manchmal anschrie. Ich tat es nur, wenn ich mit ihm allein war. Als ich aber merkte, dass ich mich darauf zu freuen begann und ungeduldig wurde, bis Mama und Papa endlich aus dem Zimmer waren, tat ich es nicht mehr. Ich wollte – –
Stopp! – Herr Dr. Martin hatte mich irgendwann, als ich mit ihm allein in seiner Küche saß, gefragt: »Was willst du einmal werden, András?« »Etwas Besonderes«, hatte ich geantwortet. »Du bist so schön«, sagte er, »aus dir kann alles werden. Schönheit vergisst Schönheit. Vergiss die Schönheit nicht! Die schönsten Dinge des Lebens sind die am wenigsten wichtigen. Wenn die Menschheit zur Vernunft gekommen ist, wird es ein Ministerium für Schönheit geben, das verspreche ich dir. Ich kann mir keinen besseren Minister vorstellen als dich. Was denkst du darüber?« – »Weiß nicht«, antwortete ich. »Die Welt«, hatte er darauf erwidert, »legt sich über dich wie der Ozean über eine Muschel. Schau halt zu, dass keine Verwechslung stattfindet!« Ich dachte in der Nacht über diesen Satz nach und kam schließlich dahinter: Herr Dr. Martin wollte mir imponieren, das war alles. Er dachte, ich sei bereits etwas Besonderes, ich sei für die anderen ein rätselhafter Mensch, und dass es eine Auszeichnung für einen Menschen bedeute, wenn er für rätselhaft gehalten wird. Vielleicht hatte ihm Moma von meinen vier Nächten und fünf Tagen erzählt, vielleicht auch nicht; vielleicht wollte er mir aus den gleichen Gründen imponieren, wie es viele andere wollten: die »pure Unschuld« soll auf einen aufmerksam werden, damit man nicht mit den anderen im sauren Ozean untergeht. Ich schüchtere ein, ich will es nicht, aber ich schüchtere ein; so war es immer gewesen. Die Leute meinen, sie müssten sich mir
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