Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Ich war auf ihrer Seite. Ich an ihrer Stelle hätte nicht gezögert. Sie blieb mitten auf dem Trottoir stehen und sah erst mich an, dann den Himmel, dann wieder mich; als wäre ihr in diesem Moment von höherer Stelle demonstriert worden, dass ihr Enkel eine einzige Enttäuschung sei. Sie schlafe gern mit ihm, antwortete sie kalt. Ob ich damit etwas anfangen könne. Ich konnte nichts damit anfangen. Da hat sie mich aufgeklärt. Gründlich und detailreich. Wir spazierten an der Bäckerei vorbei, und Moma referierte. Es sei wahrscheinlich eine Schweinerei, dass sie so mit mir rede, sagte sie, aber die ganze Sache sei schließlich eine Schweinerei, und irgendwann müsse es sowieso geschehen. Es sei gescheiter, eine Großmutter übernehme das als sonst jemand. Außerdem sei es vernünftig, mit siebeneinhalb schon Bescheid zu wissen, in diesem Alter würden einem Buben die Hormone noch nicht den Blick auf die Tatsachen vernebeln.
»Je früher, desto besser«, lachte sie. »Dann hat man mehr davon. Denn im letzten Atemzug wird man sich nur eines vorwerfen: dass man zu wenig gelebt hat.«
Hinterher wusste ich fünfundsiebzig Prozent von allem.
Am selben Abend lernte ich meine ersten Freunde in Wien kennen. Emil hieß der eine; er war vierzehn und Sohn einer Prostituierten, deren Revier beim Urban-Loritz-Platz begann und über die stadtnähere Gürtelseite bis zur Neustiftgasse reichte. Franzi hieß der andere; sein Vater arbeitete in einer Schlosserei im 15. Bezirk, die Mutter in einer Fabrik für Watte und Verbandszeug in Penzing. Franzi war schon fünfzehn und groß, aber Emil war ihm überlegen, was Intelligenz und Entschlusskraft betraf, aber auch in sportlicher Wendigkeit. Sie nahmen mich auf, von diesem Abend an stand ich unter ihrem Schutz. Ich hatte nicht darum gebeten. Sie hatten mich darum gebeten. Ich erzählte ihnen irgendeine Geschichte – dass meine Eltern Diplomaten seien und Parlamentarier und steinreich und in der Welt herumführen und Präsidenten besuchten, zum Beispiel Dwight D. Eisenhower, bei dem sie sich erkundigten, wie es ihm nach seinem Herzanfall gehe. Es folgte ihr Verhör; ich antwortete mit Ja und Nein und Weißnicht. Ich merkte bald, dass die beiden die Reichen dieser Welt nicht ausstehen konnten und dass wenigstens der Vater von Franzi die Hälfte von ihnen an Laternenpfählen hängen sehen wollte, darum gab ich ihren Vorurteilen Munition: Meine Eltern, sagte ich, hätten mich abgeschoben, sie würden sich einen Scheißdreck um mich kümmern, seien nur hinter ihrem verdammten Geld her (kurz überlegte ich, ob ich erzählen sollte, mein Vater habe seinen eigenen Bruder umgebracht und zerstückelt und das Fleisch über Straßen, Wiesen und Wälder verteilt – das kam mir aber übertrieben vor); ich sei zu einer Frau gebracht worden, die ich Tante nennen sollte, das hätte ich aber nicht getan, und darum sei ich weitergeschoben worden zu einer anderen Tante, die habe versucht, mich zu schlagen, aber ich hätte zurückgeschlagen und sei abgehauen, zuerst in einem Lastwagen, anschließend zu Fuß durch Sumpf und Schilf. Ich hätte irgendwo in einer Wiese übernachtet und Zigeunerlieder gesungen, genau wie der amerikanische Westernheld Billy the Kid. Zurzeit würde ich mit fremden Leuten zusammenleben, die aber freundlich zu mir seien und mir versprochen hätten, mich zu verstecken, falls man mich suchte, einer von ihnen sei ein Ägypter. Ich sagte, ich könne auch Ägyptisch, und zählte die Namen der Götter auf, die ich an Herrn Dr. Martins Küchentisch gehört hatte, hängte sie aneinander, gab ihnen eine Melodie, als sagte ich einen alltäglichen Satz wie »Heute habe ich beim Bäcker Schwarzbrot und einen Liter Milch gekauft«, und zeigte dabei mit dem Finger auf die Bäckerei vis-à-vis: »Re horus atumschu tefnutgeb nut Osiris Isis Seth Nephthys thotanubis.« Und Slowakisch könne ich auch – »Kto nie je so mnou, ten je proti mne«; das war der Wahlspruch des slowakischen Boxers Július Torma, den mein Vater verehrte: »Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.« Dass ich Ungarisch sprach, verriet ich ihnen nicht. Ich hätte Emil und Franzi weismachen können, ich stamme vom Mond, mein Vater sei ein Krokodil und meine Mutter ein Lenkrad, sie hätten mir geglaubt. Es war aufregend, die Macht meines Lächelns, meiner Sommersprossen und meiner Locken zu spüren – und die Macht des Erzählers, der den Weg durch seine Geschichten kennt und weiß, was bei einer Handlung
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