Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
geschieht.
Franzi musste bald nach Hause, er hatte Angst vor seinem Vater und allen Grund dazu. Ich spazierte mit Emil am Gürtel entlang, den gleichen Weg, den ich am Morgen mit Moma gegangen war. Er legte seinen Arm um mich. Er war dünn und drahtig und nicht viel größer als ich und hatte starke Hände und einen grausamen Zug um den Mund, der mir gefiel. Ich konnte mir vorstellen, dass er den Franzi quälte – nicht mit den starken Händen, sondern mit gelegentlichem Liebesentzug. Er wolle mich seiner Mutter vorstellen, sagte er.
Sie wartete in einem Café auf ihn, eine kleine pummelige Frau mit schwarz gefärbten Haaren. Sie nahm Emil in den Arm und küsste ihn und malte ihm ein Kreuzchen auf die Stirn. Ich beneidete ihn, weil er eine Mama hatte, die ihn anscheinend ohne Unterbrechungen liebte und ihm mir nichts, dir nichts eine Gulaschsuppe bestellte und eine Coca-Cola dazu. Ich gab ihr die Hand, bog mich zu einem Diener und sprach mit ihr, als wäre sie eine hochstehende Person. Das war nicht Berechnung. Was hätte ich mir von ihr erwarten können? Ich tat es gern. Bei allen Fremden tat ich so. Selber hatte man ein gutes Gefühl dabei, weil die Welt um einen herum durch Höflichkeit und Freundlichkeit deutlich größer und sinnreicher wurde, ähnlich wie bei Föhnstimmung, wenn man Dinge am Horizont sehen kann, die man sonst nicht sieht. Emils Mama war so gerührt von meinen Manieren, dass sie auch mich an sich drückte. Ich lächelte und wusste, meine Sommersprossen leuchteten golden. Sie bestellte auch mir eine Coca-Cola und eine Gulaschsuppe und sagte, sie sei glücklich, dass Emil einen neuen Freund gefunden habe und dazu einen wohlerzogenen. Mir flüsterte sie ins Ohr: »Pass ein bisschen auf ihn auf, Hans-Martin.« – Nun ja, ich hatte mich bei Franzi und Emil als Hans-Martin vorgestellt. Originell war das nicht, das gebe ich zu; das Kennenlernen war halt schnell gegangen. Sie glaubten, es sei ein doppelter Vorname.
Ich kam in dieser Nacht erst spät in unsere Wohnung zurück. Emil hatte mich nach unserem Besuch in dem Café noch ein bisschen in die Gegend eingeführt, es waren ja Schulferien, und er durfte so lange aufbleiben, wie er wollte; bis zur Alserstraße waren wir spaziert und wieder zurück. Er hat mir viel erzählt, ich habe zugehört. Er wisse, dass wir beide sehr gute Freunde würden, sagte er, das wisse er sonst bei keinem so schnell, aber bei uns beiden sei es gar nicht anders möglich. »Willst du wissen, warum ich das weiß?«
»Wenn du es mir sagen willst.«
»Weil ich normalerweise ein verlogener Fuchs bin. Wenn ich jemanden nicht gut kenne, sage ich prinzipiell nicht die Wahrheit. Weil das besser ist. Bei dir habe ich aber die Wahrheit gesagt, und das ist für mich das Zeichen. Und jetzt zeige ich dir etwas, was ich noch niemandem gezeigt habe.«
Er führte mich in einen Hinterhof. Dort sei eine ehemalige Werkstatt, sagte er, dort würden sich er und Franzi manchmal treffen. Das Dach war an einer Seite eingestürzt, das konnte ich in der Dunkelheit sehen. Es roch scharf wie nach angebranntem Fleisch, nach Maschinenöl und nach öliger Erde. Er öffnete die Tür, ich solle warten. Dann liefen wir wieder zur Straße zurück. Im Schein einer Laterne zeigte er mir ein Ding, eine faustgroße Halbkugel, aber eher flach. Das sei ein Saugnapf.
»Von einem Profi«, sagte er. »Du drückst ihn auf eine Fensterscheibe, und darum herum ritzt du mit einem scharfen Nagel einen Kreis in das Glas, und mit einem Ruck ziehst du daran, dann ist ein Loch in der Scheibe. Und es macht keinen Lärm.«
»Und warum macht man das?«
»Dann kannst du mit der Hand hineingreifen und das Fenster von innen aufmachen und einsteigen.«
»Hast du schon einmal?«
»Irgendwann werde ich.«
Mein Vater und meine Mutter machten sich Sorgen; Papa mehr um Mama als um mich. Sie schrie mich an, wo ich gewesen sei, ob ich im Begriff sei, eine kriminelle Karriere zu starten. Sie hackte auf mich ein, die Unterarme vom Körper abgespreizt, als hätte sie Skistöcke in den Händen und würde gleich über einen Abhang hinunterrasen (in einer Zeitung hatte ich ein Bild von einem Skirennfahrer in eben dieser Haltung gesehen). Rase du nur über deinen Abhang hinunter, dachte ich, ich werde unten nicht auf dich warten. Ich sagte, ich würde mir von nun an nichts mehr vorschreiben lassen. Da lachten sie beide. Aber es war ein beeindrucktes Lachen, das heißt: ein Staunen. Ich steckte noch so tief in der Rolle des
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