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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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abgeschobenen Diplomatenkindes, das zur Rebellion konvertiert war, dass ich sie zu Hause automatisch weiterspielte. Das war ein Fehler.
    Lass niemals eine Überschneidung zwischen deinem wahren und deinem erlogenen Ich zu! Vermeide, Teile aus deinem wahren Leben in dein erlogenes zu übernehmen! Der Lügner muss in jedem Moment wissen, wer er ist – dieser oder jener. Lügen setzt Selbsterkenntnis und Selbstbehauptung voraus. Lügen soll nicht Träumen von einem anderen Ich sein, sondern wohlkalkulierte Konstruktion eines solchen. – Die Frage ist, zu welchem Zweck. Darüber wird noch zu reden sein.
     

5
     
    Am folgenden Tag zeigten mir Emil und Franzi, wie sie sich gegenseitig befriedigten. Sie fragten, ob sie es bei mir auch machen sollten. Da sagte ich Nein. Und ob ich es bei ihnen machen wolle. Da sagte ich Ja. Es ging schnell. Sie meinten, ich könne es sehr gut. Von nun an spielten wir dieses Spiel mehrmals am Tag. Wir verdrückten uns in den Hinterhof in die ehemalige Werkstatt mit dem eingestürzten Dach. Es gefiel ihnen, dass ich es immer gleich machte. Ich setzte mich auf einen Sessel, und sie standen vor mir. Ich besorgte es ihnen auch gleichzeitig, das mochten sie besonders gern. Ich solle sagen, wer von ihnen den tolleren Schwanz habe. Ich sagte, ich sehe und greife eigentlich keinen Unterschied.
    Bei unserem nächtlichen Spaziergang am Gürtel entlang zum Café, wo seine Mama auf ihn wartete, sagte ich zu Emil, seiner gefalle mir besser. Er antwortete, das habe er sich eh gedacht, ihm wäre aber lieber, ich würde es dem Franzi nicht sagen, er sei leicht gekränkt und gleich haue es ihn derart ins Unglück, das könne man sich nicht vorstellen. Zum Beispiel schlage er im Unglück mit dem Kopf gegen eine Wand. Dann tue er ihm so leid, das könne man sich nicht vorstellen. Ich dachte, der grausame Zug um Emils Mund müsse etwas anderes bedeuten oder auch nichts. Bisher hatte er nur nette Dinge über seinen Freund Franzi gesagt, und auch über mich würde er nur Gutes sagen. Er war – anders, als ich es eingeschätzt hatte – ein besserer Mensch als Franzi. Das irritierte mich, weil mir in der Beurteilung der beiden offensichtlich ein Fehler unterlaufen war.
    Emil habe ihr alles über mich erzählt, sagte seine Mama. Sie bestellte für uns wieder Gulaschsuppe und Coca-Cola und für sich selbst einen Cognac. Sie trug ein rotes Jäckchen mit einem weißen flauschigen Kragen, in dem ihr runder Kopf steckte wie in einer Schaumkrone. Sie könne sich gar nicht beruhigen, rief sie aus. Dass Eltern ihren Kindern so etwas antun! Eines aber habe sie nicht verstanden: seien meine Eltern Ägypter oder Russen? Russen, sagte ich.
    »Und Russisch kannst du also logischerweise auch.«
    »Ja«, sagte ich.
    »Russisch, Slowakisch, Ägyptisch …«
    »… und Deutsch«, vervollständigte ich.
    »Und wie alt bist du?«
    »Neun«, log ich.
    Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen. Ab und zu ließ sie Emil ziehen. Er wollte eine ganze. Sie schlug ihm auf die Finger, als er nach dem Päckchen griff.
    Sie habe sich Folgendes gedacht, sagte sie schließlich: »Du kannst bei uns wohnen, wenn es dich nicht stört, mit dem Emil in einem Zimmer zu schlafen. Viel Platz haben wir nicht.«
    Ich stand auf, verbeugte mich und sagte, das gehe leider nicht; die Leute, bei denen ich wohne, hätten eine leidende Großmutter, auf die ich in der Nacht und am Vormittag aufpassen müsse, während die anderen arbeiteten; das hätte ich den Leuten versprochen; sie seien auf mich angewiesen. Aber ich sei sehr dankbar für die Gulaschsuppe und die Coca-Cola.
    »Die kriegst du von nun an jeden Abend hier serviert«, sagte sie.
    Ich sah ihr an, dass sie erleichtert war; und Emil sah ich an, dass auch er erleichtert war. Beide wollten sie den Vorschriften eines guten Lebens folgen.
    Sie winkte einer Frau, die draußen am Café vorbeiging, und warf ihr einen Handkuss zu. »Von ihr habe ich letzte Nacht geträumt«, flüsterte sie, als könnte es die Frau durch die Fensterscheibe hindurch hören. »Dabei habe ich in Wirklichkeit nicht richtig von ihr geträumt, das war anders. Wie war das gleich? Ich habe es vergessen. Nein, jetzt weiß ich es wieder. Ich habe etwas anderes geträumt …«
    »Mama«, unterbrach sie Emil.
    »Hör doch! Ich habe etwas anderes geträumt. Ich habe geträumt, dass ich in einem fremden Bett gelegen bin und eingeschlafen bin, und dann habe ich geträumt … erst jetzt kam der richtige Traum, verstehst du …«
    »Mama,

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