Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
derart in mir versponnen, dass ich die Zeit vergaß und ganz aus der Welt war und mich erst wieder orientieren musste, wo ich war, wann ich war, wer ich war.
Der Volksgarten in der Innenstadt gefiel mir besonders. In seiner Mitte stand ein Tempel, dorthin setzte ich mich und dachte nichts. Es waren regnerische Tage und schwüle Tage. Zwischen den Säulen des Tempels saß ich im Trockenen und dachte nichts, zählte drei Herzschläge und atmete ein, zählte drei Herzschläge und atmete aus. Darüber war ich glücklich wie über eine wertvolle Erfindung, die den Menschen die Stunden erleichtern könnte. Mir war, als sähe ich durch die Zeiten hindurch – was in einer Minute geschähe, was in der nächsten, in der übernächsten, bis eine Stunde voll wäre, ein Tag, ein Jahr, zehn Jahre; und alle war ich, der in einer Minute, der in der nächsten, der in der übernächsten, der in einem Tag und der in zehn Jahren. Alle war ich und niemand. Ich war niemand – niemand, bis die Tauben zu meinen Füßen landeten und mich ansahen. Non fui; fui; non sum; non curo. Latein sprechende Tauben. Bin nicht gewesen; bin gewesen; bin nicht mehr; keine Sorge. Sie ließen mich aus den Augen und flatterten davon.
Wenn der letzte Freier gegangen war und Emil sich verabschiedet hatte, trottete ich manchmal zum Westbahnhof. Um zwölf fuhr der Nachtzug nach Frankfurt am Main ab. Es herrschte eine Aufregung, die mich ansteckte, am liebsten wäre ich mitgefahren; schön gekleidete Männer und Frauen trugen Koffer oder ließen sich die Koffer tragen. Ich ging an den Waggons entlang, vierundzwanzig waren es, die meisten Schlafwagen, deren Fenster von innen verhängt waren, in den Türen standen die Schaffner mit ihren beschrifteten Mützen und rauchten und unterhielten sich. Auch ein Speisewagen war dabei, durch die Scheiben schimmerten die Lampen auf den Tischen wie große Perlen. Ich stellte es mir herrlich vor, durch die Nacht zu fahren und zu dinieren. Am meisten aber beeindruckte mich die Lokomotive, eine Dampflok mit neun Achsen und einer Gesamtlänge, von Puffer zu Puffer, von vierzig großen Schritten. Es musste ein Glück sein, von ihr in die Welt hinausgezogen zu werden.
Ende August fuhr Moma zusammen mit Herrn Dr. Martin nach Zürich. Sie blieben eine Woche. Als sie zurückkamen, war Moma euphorisch. Ein riesiger Haufen Geld warte auf uns, sagte sie, ein wirklich riesiger Haufen, viel, viel mehr, als sie sich erträumt habe; ein bisschen Geduld müssten wir allerdings haben, ein bisschen etwas Bürokratisches sei noch zu erledigen, aber dann. Ich fragte sie, ob sie im Speisewagen gegessen hätten, und sie nickte und formte ein andächtiges Gesicht dabei. Und ich tat, wie sie tat.
Von nun an besuchte sie uns nur noch alle zwei, drei Tage. Sie brachte mehr Geld mit als bisher. Herr Dr. Martin war offensichtlich sehr beeindruckt gewesen von der heiligen Schweizerischen Bankgesellschaft SBG und auch sehr beruhigt über die Meldungen, betreffend den Vermögensstand der Familie Ortmann aus Budapest, als deren legitime Vertreterin Frau Dr. Fülöp-Ortmann von den Direktoren des Züricher Mutterhauses anerkannt worden war. Moma rechnete damit, in spätestens einem halben Jahr Zugriff auf das Geld zu haben. Herr Dr. Martin war bereit, uns bis dahin zu unterstützen. Was übrigens nicht zur Folge hatte, dass Mama und Papa aufhörten zu arbeiten und immer wieder nach immer besseren Stellen zu suchen. Auch ich ging weiter meinem Gelderwerb nach. Ein Unterschied zu vor Zürich: Unsere Mahlzeiten wurden deutlich umfangreicher. Papa zeigte mir, wie man einen Rindsbraten zubereitet – mit Püree und Karottengemüse und grünem Salat; wie man Tafelspitz kocht und Apfelkren anrührt; wie aus Kohlrabi ein leckeres Gemüse wird; weiters: Apfelmus, Zwetschkenkompott, Birnenkompott mit Zimtstange und Griesschnitten mit Staubzucker. Moma aß nie mit, probierte nur und spendierte hin und wieder eine Flasche Wein und mir eine Coca-Cola. Einmal bezahlte ich den Nachtisch von meinem Geld: fünf rosarote Punschkrapfen aus der Konditorei AIDA in der Wollzeile. Ich sammelte nämlich interessante Geschäfte, wo ich Kunde werden würde, wenn ich viel Geld hätte.
6
Emil sagte: »Wenn sie jemand bei der Polizei anzeigt, kommen sie ins Gefängnis.«
»Und ich?«, fragte ich.
»Wahrscheinlich in ein Heim.«
»In was für ein Heim?«
»Nichts Gutes auf jeden Fall.«
Er wollte nicht mehr, dass ich es bei ihm machte. Schon lange wollte er es nicht
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