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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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etwas Fremdes, und dieses Fremde meinte es wahrscheinlich nicht gut mit mir; was mich wiederum einsehen ließ, dass es besser wäre, mich mit Herrn Helmut Rosenberger zusammenzutun.
    Die Arbeit an dem Pass hatte gerade drei Stunden gedauert. Mehr Zeit war nicht nötig gewesen, um aus uns beiden andere Menschen zu machen.
     

3
     
    Er war der Meinung, wir seien für die Reise nicht angemessen gekleidet. Er traute sich aber nicht, in der Stadt etwas zu kaufen. Unter Garantie hätten meine Eltern inzwischen die Polizei verständigt, weil ich nicht nach Hause gekommen sei. Wahrscheinlich würden längst die Bahnhöfe kontrolliert. Nach fünf Sätzen war seine gute Laune dahin. Er schimpfte mich, weil ich den kleinen Spiegel nicht ruhig halte, was aber nicht stimmte, er war es, der nicht ruhig war. Seine Hand mit dem Rasiermesser zitterte, und er schnitt sich gleich dreimal: in die Oberlippe, am Kinn und unter dem Ohr.
    »Wien ist eine Falle!«, heulte er aus seiner kleinen Mundhöhle heraus – ja, er heulte, und das war hässlich. »Wie bin ich nur in diese Falle geraten! In dieses Loch! In diesen Spott!«
    Sein Gesicht schimmerte nach der Rasur weiß wie Butter. Ich konnte mir leicht vorstellen, dass jeder auf der Straße ihn anstarren würde, wie man auf eine Reklametafel starrt: Hier seht, hier steht ein böser Mann!
    Ich sagte: »Wenn uns die Polizei erwischt, tu ich einfach, als hätte ich nichts mit Ihnen zu tun und wär einfach nur von zu Hause abgehauen. Ich streite ab, dass wir uns kennen, ist das eine Idee?«
    »Vor der österreichischen Polizei fürchte ich mich doch gar nicht! Die würde ich doch küssen. Nein, küssen würde ich sie nicht. Niemand will die Polizei küssen. Aber ich würde sie küssen, ich schon. Was soll ich tun? Was soll ich nur tun!«
    Und nun geriet er völlig außer sich; schimpfte und wimmerte und kläffte in einem Kauderwelsch gegen unsichtbare Leute an, hastete an den Wänden entlang, das Rasiermesser zwischen den Fingern; bald schrie er zur Decke hinauf, bald flüsterte er vor sich nieder, so dass mir ganz elend wurde vor Sorge um ihn. War er gerade noch offen gelaunt gewesen und hatte mir sogar etwas vorsingen wollen, etwas aus einer italienischen Oper, wie er mit gespielter Tenorstimme angekündigt hatte, verwandelte er sich in wenigen Minuten in einen Mann, der keinen Stolz mehr besaß, kein Schwert, kein Zutrauen, kein Fünkchen Mut. Auf die Knie fiel er nieder und küsste den Betonboden, faltete die Hände, hob sie empor, zählte Namen von Männern auf, ein Dutzend oder mehr, die alle für Schmerz und Tod standen – das sagte er zwar nicht, aber wie er die Namen mit den diversen Dienstgraden davor aussprach, wusste ich, bei welcher Organisation sie im Mitarbeiterverzeichnis aufschienen und dass jeder von ihnen für diese beiden schrecklichen Dinge stand. Am Ende kauerte er in einem Winkel, das Rasiermesser mit beiden Händen umklammernd, und bat mich, ich solle nach Hause gehen und meiner Mutter und meinem Vater alles beichten, die Wahrheit, die ganze Wahrheit; er werde hier warten, bis die österreichische Polizei ihn in Gewahrsam nehme; alles sei besser, als von den Männern gefunden zu werden, deren Namen und Ränge er wieder herunterleierte wie Worte aus einem Gebet an den Teufel.
    »Ist mein Kopf schwarz, oder wächst Helles nach?«, schluchzte er.
    Ich hielt die Taschenlampe über ihn und antwortete wahrheitsgemäß: »In der Mitte ist ein Streifen.« Da weinte er hemmungslos.
    Ich räusperte mich und fragte mit fröhlicher Stimme, wohin denn die Reise gehen solle und ob er ein Auto habe oder ob wir mit dem Zug reisen. »Fahr ich auch mit?«, fragte ich.
    Er gab mir keine Antwort, atmete so heftig, dass ich fürchtete, gleich würde ein spitzer Knall aus seiner Brust zu hören sein und dann nichts mehr. »Sie kennen jeden Ungarn in Wien«, wimmerte er, »sie kennen auch dich, Robi, glaube mir, sie kennen dich und deine Mutter und deinen Vater und deine Großmutter, und sie wissen alles über deinen Großvater. Und sie stellen die richtigen Fragen, dafür sind sie bekannt. Warum sollte ein Kölyök wie du nach der Schule nicht nach Hause gehen? Warum sollte ein Kölyök wie du über Nacht wegbleiben? Du hast einen anständigen Vater und eine gute Mutter. So einer läuft nicht von zu Hause weg. Also hat dich jemand entführt. Warum aber sollte ein Österreicher einen ungarischen Buben entführen? Was kann ein Österreicher von dir wollen? Österreicher tun Ungarn nichts.

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