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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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einem Satz war er bei mir und drückte seine Hand auf meine Nase und meinen Mund.
    »Wolltest du gehen?«
    Ich konnte nicht antworten. Ich strampelte mit den Beinen und schlug mit den Armen aus und tat übertrieben, als ginge es um mein Leben. Ich dachte, das muss ich jetzt tun und nicht erst in einer Minute, wenn ich keine Kraft mehr dazu haben würde; er soll denken, ich sterbe gleich. Er ließ mir Luft, schob mich aber an die Wand und presste seine Hände links und rechts von mir gegen die Mauer und klemmte mich zwischen seinen Armen ein. Ich konnte nur seinen Umriss vor mir sehen und seinen Mund riechen.
    »Ich muss aufs Klo«, sagte ich. »Klein.«
    »Du darfst mich nicht anlügen«, sagte er. »Ich tu dir nichts. Aber ich habe Sorge, dass du schreist. Verstehst du meine Sorge?«
    »Die verstehe ich, ja.«
    »Schrei also bitte nicht.«
    »Tu ich nicht.«
    Er gab mich frei und strich mir mit dem Daumen über die Stirn. »Little férfi. I wish you a good life. Die Zukunft bringt Gutes dem Zuversichtlichen. Ami elmúlt, elmúlt.«
    Ich wusste nicht, ob er sich an meinen Namen erinnerte oder ob er ihn überhaupt je gekannt hatte. Es war wohl so, dass es in diesem Raum für mich keinen Namen gab. Wenn man nur zu zweit ist, hat man keinen Namen nötig.
    »Ich muss dringend«, sagte ich. »Bitte!«
    Er sperrte auf, zündete sich eine Zigarette an, und wir schlugen unter dem Vollmond unser Wasser ab, er an die Platane auf der einen, ich in die Büsche auf der anderen Seite der Tür.
    »Ich verstehe dich ja auch«, sagte er. »Jeder Mensch hat das Recht zu pissen, jeder, egal, ob bei Tag oder bei Nacht. Es ist etwas Furchtbares, wenn man jemandem verbietet zu pissen. Meistens kann man damit mehr erreichen als mit Hunger oder Schlafentzug oder Lärm. Wer dir das Pissen verbieten kann, der hat absolute Macht über dich. Ich weiß schon, du fragst dich, warum lebt der einflussreiche Major Hajós, der nur so zu machen braucht und alle Nasen schauen geradeaus, warum vegetiert der in diesem Loch, wo er spielend im Hotel Sacher residieren könnte. Ja, das habe ich, ich habe tatsächlich im Hotel Sacher gewohnt, und zwar auf feinste Art und Weise. Du kennst die Menschen nicht. Die Menschen denken nicht über sich selbst nach, das tun nur wenige. Sie denken über andere nach. Sie schauen sich nach anderen um. Und nach mir schauen sich viele um, das kannst du mir glauben. Az erdőnek füle van, a mezőnek szeme van. Darum bin ich aus dem vornehmen Hotel Sacher ausgezogen. Und am Ende bin ich hier gestrandet, ein winziger Splitter eines Wracks. Muss mir jeden Abend das Hirn aussaugen, wo ich am nächsten Morgen scheißen soll. Hab ein Dach über dem Kopf, nur um mir zu beweisen, dass ich einen Kopf habe. So ein Leben habe ich mir nicht gewünscht.«
    Er zupfte ein Stück von der dünnen Rinde der Platane ab und zerrieb es zwischen seinen Fingern. »Was ist mit diesem Baum los? Ist er krank? Hat er einen Ausschlag?«
    Ich sagte, es sei eine Platane, und es sei ganz normal, Platanen häuteten sich.
    »Sie häuten sich? Ein Baum, der sich häutet? Das habe ich noch nie gehört, dass sich ein Baum häutet. Eine Schlange häutet sich.« Er wischte hastig die Hände an seinen Hosenbeinen ab.
    Er versicherte mir wieder, dass ich bald zu Hause sein würde und dass ich es nicht bereuen würde, ihm einen Gefallen getan zu haben. Seine Stimme wurde wackelig, und mit wackeliger Stimme fragte er mich, ob ich gern Geld in der Hand halte, einen Schein, zwei Scheine, drei Scheine. Ich sagte, ja, gern.
    »Und jetzt«, er hatte die Zigarette so weit heruntergeraucht, dass der Filter angekokelt war und stank, »lass uns ein Stückchen schlafen, mein kleines Blümchen.«
    »Ich kann nicht«, sagte ich. »Ich friere.«
    Er gab mir seine Decke, und ich wickelte mich darin ein. Ein paar Stunden habe ich geschlafen und im Schlaf das Desinfektionsmittel gerochen.
     
    In aller Frühe verließen wir den Hof. Major Hajós band mir ein Tuch über den Kopf, damit man mich nicht an meinen Haaren erkenne, die seien auffällig, weil viel zu lang und lockig wie bei einem Girl, dazu in einer Farbe, mein Gott, und er verbat mir, auch nur ein Wort zu sprechen, wenn Menschen in der Nähe seien. Außerdem solle ich den Kopf gesenkt halten, damit nicht jeder gleich meine Sommersprossen sehe.
    Wir gingen durch die Innenstadt, die um diese Zeit leer war, und hinunter zum Donaukanal. Dort traf Major Hajós einen Mann, der ebenfalls einen Bart hatte und einen Hut auf dem

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