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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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zwölften Tag unserer Freundschaft – wenn ich richtig gezählt habe – verließen Staff Sergeant Winship und ich das Lager im Wald. Wir waren stark, gesund, ausgeschlafen und satt. Nach weiteren drei Tagen erreichten wir Passau.
     
    Bevor wir die Stadt betraten, schoben wir unsere Fahrräder in die Donau und schauten zu, wie sie untergingen. Ich habe nicht verstanden, warum wir das tun mussten, ich war traurig und hatte ein schlechtes Gewissen; wer konnte schon sagen, was dort unten vor sich ging. Staff Sergeant Winship salutierte, als sich das Wasser über der Lenkstange seines Rades schloss. Aber er war an diesem Morgen mit anderen Dingen beschäftigt, als die Bedeutung des Lebens zu entziffern. Er hatte sich wieder hübsch gemacht, hatte sich rasiert und gründlich mit Seife abgeschrubbt und sein Uniformhemd angezogen, das er tags zuvor gewaschen und in der Sonne aufgespannt hatte; auch die Uniformjacke zog er an, obwohl es schon um diese Tageszeit viel zu warm dafür war, und das Käppi setzte er auf. Gleich nach dem Aufstehen hatte er die Schuhe mit einer Speckschwarte eingerieben und so lange poliert, bis sich die ersten Sonnenstrahlen darauf spiegelten. Ich hatte mich, seinen Anweisungen folgend, ebenfalls herausgeputzt, die Fingernägel geschnitten und ausgekerbt, die Zähne saubergerieben. Der Schorf auf meinem Kopf war abgeheilt, die Haare ein Stück nachgewachsen und dicht wie ein Fell. Wir beide sahen gut aus. Wir bestätigten es uns gegenseitig und haben dabei nicht gelogen. Aber blank waren wir. Alles hatten wir weggefuttert und besaßen keinen Knopf. In der Stadt, erklärte mir Staff Sergeant Winship, sei es »no good«, auf die übliche Weise unser Zeug zu beschaffen. Hinter Passau würden wir außerdem Deutschland verlassen, und in Österreich habe »US-Military Police« nichts mehr zu melden, niemand fürchte sich dort vor seiner Jacke, seiner Hose und seinem Käppi.
    Die Geschäfte hatten noch geschlossen; wir drehten eine Runde, schauten uns die verzierten Häuser an; mir gefiel besonders die Stelle, wo zwei Ströme zusammenflossen, einer grün, einer hellbraun wie Malzkaffee mit Milch. Bei der Promenade setzten wir uns auf eine Bank, die von Bäumen und wucherndem Gebüsch gedeckt war. Staff Sergeant Winship sagte, heute würde »a big thing« stattfinden, und ich sei bei »big thing« der wichtigste Mann.
    »Today you are the most important man, Corporal Andrew Philip!«
    In einer Allee, die in die Promenade einmündete, war eine Filiale der Sparkasse Passau; die Bäume schirmten mit ihren Kronen die Straße ab. Ich hätte nichts anderes zu tun, als kurz nach Öffnung langsam auf die Tür zuzugehen, langsam den Schalterraum zu betreten und langsam zu fragen, ob ich eine Sparbüchse geschenkt bekomme, eine rote oder blaue oder grüne, und mich nicht zu entscheiden, bis ein Gespenst erscheine.
    Das war leicht.
    Hinter dem Schalter war ein Mann damit beschäftigt, Geld zu zählen, im Büro daneben saß eine Frau, die Tür stand offen. Ich war der erste Kunde. Ich sagte, und sprach dabei langsam, ich hätte zu meinem Geburtstag zehn Mark geschenkt bekommen und die würde ich gern sparen, denn meine Tante habe gesagt, wenn ich das Geld nicht alles auf einmal ausgäbe, könne sie sich vorstellen, ab und zu fünfzig Pfennig oder manchmal sogar eine Mark draufzulegen, und mein Onkel, also der Mann von meiner Tante, habe etwas Ähnliches gesagt. Der Bankbeamte trug eine mächtige Schildpattbrille und einen Schnauzer und hatte nicht das geringste Interesse an mir und meiner Geschichte. »Sehr gscheit«, nuschelte er, ohne mich anzusehen. »Kostet sechzig Pfennig.« Wie Staff Sergeant Winship vorausgesehen hatte, stellte er drei Büchsen in drei verschiedenen Farben vor mir auf. Ich prüfte eine nach der anderen, schüttelte sie und hielt sie mir ans Ohr und hatte mich, wie besprochen, nicht entschieden, als das Gespenst zur Tür hereinkam. Es lief schnurstracks auf mich zu, auch die Hand war unter dem weißen Leintuch verborgen, die Pistole aber war deutlich zu sehen; es riss mich an sich, drückte mir die Waffe an die Schläfe und flüsterte mir ins Ohr, ich solle sagen, her mit tausend Mark, wenn nicht, würde ich erschossen. Ich sagte es und verzog mein Gesicht, als fürchtete ich, sterben zu müssen. Das Gespenst beförderte mich nahe an den Schalter heran, damit jeder deutlich sehen konnte, dass hier kein Fasching war. Der Mann griff in die Kasse und zählte hurtig zehn Hunderter vor, Angst war

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