Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

und manchmal sogar Verzweiflung. Ich kaufte Zigaretten, weil ich ihm etwas Gutes tun wollte. Die Frau im Laden fragte, für wen die seien. Ich sagte, für meinen Vater. Die Frau sagte, sie kenne mich nicht. Ich sagte, meine Eltern, meine Schwester und ich seien auf Besuch hier. Bei wem? Auf der Durchreise. Wohin? Sommerfrische an der Donau. Mit dem Zug oder mit dem Auto? Mit dem Auto, einem 56er DKW Cabriolet, beige mit Stoffdach. Woher? Aus Wien. Welche Sorte? Ich zeigte auf irgendeine und sagte: »Die da.« Am Ufer planschten Kinder, ich überlegte, ob ich die Schuhe und die Hose ausziehen und zu ihnen hüpfen sollte. Aber Staff Sergeant Winship wartete auf mich, und es machte mir Freude, mich um ihn zu kümmern. Ich schnitt ihm das Brot, legte Käse oder Wurst darauf, zerteilte die Tomaten, hackte die Gurke in Würfel, öffnete seine Bierflasche, zündete seine Zigarette an. Ich wusch unsere Sachen im Fluss und legte sie über das Gebüsch, wie er es mir gezeigt hatte. Wir lernten ein bisschen und unterhielten uns und lernten wieder. Er wollte wissen, wann und warum meine Familie aus Ungarn nach Österreich gezogen sei. Ich antwortete, ich wisse es nicht, ich sei zu klein gewesen, man habe mich einfach mitgenommen. In der Abenddämmerung marschierten wir weiter – vorbei an einem Kruzifix, das am Ufer stand, Sträußchen vertrockneter Blumen darunter; vorbei an blau, gelb und rot gestrichenen Bienenstöcken; vorbei an Booten, die kieloben in der Wiese trockneten. Lange Kähne, auf denen Baumstämme befördert wurden, zogen lautlos an uns vorüber; an Deck war eine Wäscheleine gespannt, daran hingen Hemden und Hosen und zwei Leintücher. Auf einem der Kähne küssten sich ein Mann und eine Frau. Im Kuss winkten sie herüber. Ein Bussard kreiste über uns mit reglosen Flügeln. Selten begegneten wir Leuten; wenn uns jemand entgegenkam, zog Staff Sergeant Winship seinen Hut tief ins Gesicht.
    Irgendwann, mitten in der Nacht, banden wir eine Zille los und ließen uns den Strom hinabtreiben. Wir legten uns auf den Rücken und betrachteten die Sterne und repetierten Vokabeln und Wendungen, und bald sprachen wir nicht mehr. Am Tag wechselten wir uns mit Schlafen und Wachen ab, in der Nacht dachten wir nach. Ich fragte ihn, ob er vor irgendetwas Angst habe. Er antwortete, er habe vor nichts Angst. Ich fragte, ob er als Kind Angst gehabt hätte. Er antwortete, seit seinem fünften Jahr habe er keine Angst mehr gehabt. Erst in der Stadt Linz gingen wir wieder an Land. Ich zog die Mädchenkleider an und band mir das Kopftuch über die Haare. Wir besorgten uns am Bahnhof vorschriftsmäßig Fahrkarten, setzten uns in den Zug, und drei Stunden später – am 19. August, um 13 Uhr 42 – kamen wir in Wien am Westbahnhof an.
     
    Ich hätte Staff Sergeant Winship gern die Stadt gezeigt, ihre Sehenswürdigkeiten und den Hetzendorfer Friedhof mit den bemerkenswerten Namen auf den Grabsteinen; aber er wollte am Abend schon wieder weiter. Deshalb einigten wir uns darauf, dass ich ihn zu einem Besuch in den Wurstelprater einlud. Zunächst aber führte ich ihn über den Gürtel, vorbei an unserer ehemaligen Wohnung mit den fettigen Fenstern, vorbei an der eingesunkenen Werkstatt, wo Emil, Franzi und ich unser Geld verdient hatten. Beim Märzpark drückten wir uns durchs Gebüsch.
    Ich musste nicht suchen. Ich scharrte und fand. Mein Geld war da. Die Socken allerdings waren arg mitgenommen und kaum noch als Socken zu erkennen. Alle vierundneunzig Schilling waren da, Einschillingmünzen, Zweischillingmünzen, Fünfschillingmünzen, verschiedene Groschen. Nicht ein Stück war in die Erde abgesunken. Ich wusch es am Brunnen und steckte es ein. Es war ein schönes Gefühl zu spüren, wie mein Geld an mir zog. Ich wollte an diesem Nachmittag alles ausgeben. Ich war zuversichtlich, das Geld würde damit einverstanden sein.
    Wir fuhren mit der Straßenbahn zum Prater; waren beide wenig gesprächig, vermieden es, einander anzusehen, saßen nebeneinander und starrten und störten uns nicht daran, dass wir angestarrt wurden.
    Die erste Ausgabe war fürs Riesenrad. Die Fahrt dauerte sehr lange. Danach schoss mir Staff Sergeant Winship eine gelbe Stoffblume. Ich traf nicht. Wir fuhren mit der Achterbahn, das war für uns beide eine Mutprobe. Wir fuhren mit der Geisterbahn, das war keine Mutprobe. Ich kaufte gebrannte Mandeln, die warfen wir uns gegenseitig zu. Staff Sergeant Winship bewegte sich zur Musik, die von den Karussellen und den