Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
ihm nicht anzusehen. Das Gespenst nahm das Geld und zog mich hinter sich her durch die Halle – der Lauf der Pistole war an meiner Schläfe – und flüsterte mir ins Ohr, ich solle weinen und um Hilfe schreien. Tat ich. Ich solle sagen, wenn jemand die Polizei riefe, würde ich erschossen. Sagte ich. Im Hinausgehen befahl mir Staff Sergeant Winship, ich solle rennen, rennen, rennen und bei der Promenade im Gebüsch auf ihn warten, gleich wie lange es dauerte. Wir liefen in verschiedenen Richtungen davon. Ich sah, wie er im Laufen die Tücher herunterriss und von sich schleuderte.
Ich verkroch mich tief in das Gebüsch, rieb mein Gesicht mit Erde ein und auch meine Hose und mein Hemd und wartete. Erst am Nachmittag tauchte Staff Sergeant Winship auf. Ich hörte ihn schon von weitem unser Lied pfeifen. Er setzte sich auf die Bank und fragte in die Luft hinein, ob ich hier sei. Ich setzte mich neben ihn. Er lächelte mich an, sehr zufrieden sah er aus. Er hatte Speckbrote und Coca-Cola mitgebracht und für sich Zigaretten und Schokolade. Er klopfte auf die Brusttasche seiner Uniform. Ich wusste, das hieß: Hier steckt unser Geld.
Außerdem hatte er neue Kleider für uns besorgt, für sich einen Anzug mit Hut, Hemd und Schuhen, für mich das Gleiche – und: ein hellgrünes Mädchenkleid mit Rüschenärmeln, dazu passende Sandalen und ein buntes Kopftuch und einen lila Lackgürtel. Ich schob meine alten Sachen ins Gebüsch und deckte sie mit Erde zu, wusch mir Hände und Gesicht am Fluss und zog mich um. Ich sei für heute, nur für heute, die Tochter seines Bruders Frank und dessen deutscher Frau, sagte Staff Sergeant Winship.
Ich nickte.
Ich solle mir einen Namen für mich ausdenken.
Ich sagte: »Irene.«
Er sagte: »Irene Winship. Good. You are my niece Irene. Hey, Irene! How are you?«
Ich sagte: »Very well, thank you. You are my uncle Hiram. Hey, Hiram!«
Er: »My nice niece Irene.«
Ich: »My handsome uncle Hiram.«
Wir spazierten durch die Stadt und taten groß, die Leute grüßten uns, wir grüßten zurück; wir leckten Eis, Erdbeere, Vanille, Nuss, Schokolade; wir schlenderten extra langsam an der Sparkasse vorbei – davor stand ein Polizeiauto, ein Polizist wartete im Schatten neben der Eingangstür; Staff Sergeant Winship grüßte freundlich und wurde militärisch zurückgegrüßt, als wäre er ein Vorgesetzter. Angst hatten wir beide keine, er nicht vor mir, ich nicht vor ihm, und sonst auch keine; er wusste, dass ich ihn nicht verraten würde; ich wusste, dass er mich nicht erschossen hätte.
10
Bei Sonnenuntergang verließen wir die Stadt. Die Bubensachen, die Staff Sergeant Winship für mich eingekauft hatte, waren dunkel, damit ich in der Nacht nicht gleich auffiele. Ich zog sie an, als wir die letzten Häuser hinter uns gelassen hatten. Die Mädchensachen wollte er nicht wegwerfen, ich war derselben Meinung, er steckte sie in den Rucksack. Ich stampfte mir die neuen Schuhe zurecht, zog sie aber nach ein paar Schritten wieder aus, band sie an den Schnürsenkeln zusammen und hängte sie mir über die Schulter; meine Fußsohlen waren wie schwarzes Leder. In der Dämmerstunde rauchten wir Zigaretten gegen die Mücken, bald waren nur mehr das Wasser, der Wind und wir. Wir wanderten an der Donau entlang, sangen unser Lied und unterhielten uns, staunten über die flinken Fledermäuse und lernten weiter an unseren Sprachen. Man glaubt nicht, wie leicht der Mensch eine Sprache begreift und sich ihre Worte merkt, wenn er in der Nacht zu zweit neben einem Fluss geht! Staff Sergeant Winship wollte, dass ich ihm einige bestimmte Sätze ins Ungarische übertrug, nämlich: »Mein Name ist Hiram Winship. Ich bin Soldat der United States Air Force. Ich bin Staff Sergeant. Ich wünsche politisches Asyl. Ich habe keine Waffe.« Er leuchtete mir mit Streichhölzern. Ich schrieb die ungarische Übersetzung in großen sauberen Buchstaben in sein Heft, und wir übten die Aussprache.
Nach Sonnenaufgang krochen wir irgendwo unter und schliefen bis Mittag. Wir hielten uns von den Menschen fern, verdösten den Tag im Schatten. Wenn wir in der Nähe eines Dorfes waren, besorgte ich im Laden etwas zu essen. Staff Sergeant Winship wollte sich von niemandem anschauen lassen, er blieb in unserem Versteck und gab mir Geld. Er kam mir auf einmal schüchtern vor, beinahe ängstlich. Es hatte lange gedauert, bis ich verstand, in seinem Gesicht zu lesen. Nun meinte ich, darin Wehmut zu erkennen, Sorge und Zweifel
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