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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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spürte.
     
    Die Internen schliefen zu je vierzig in zwei Schlafsälen, teilten sich kaltes Wasser und Steintröge und mussten die meiste Zeit den Mund halten, was Silentium genannt wurde. Wenn sie das Heim verließen, um in die Schule zu gehen, dann in Zweierreihen. Eine andere Möglichkeit rauszukommen gab es nicht; es sei denn eine außerterminliche Beichte im nahen Kapuzinerkloster, was aber unangenehm war, wie ich mir sagen ließ, denn jeden Samstag kamen die Beichtväter ohnehin vom Kloster herauf, und man musste vor der Heimleitung die Dringlichkeit einer zwischenzeitlichen Absolution begründen, und das hieß, die entsprechende Sünde nennen – auf welchem Weg der Präfekt doch noch Einblick in die Herzen seiner Zöglinge gewann, denn als Ziehvater durfte er nicht gleichzeitig Beichtvater sein.
    Eine Zeitlang fand ich diesen Drill interessant und habe mich ihm freiwillig unterworfen. Ein paar Mal bin ich sogar über Nacht im Heim geblieben.
    Gebeichtet habe ich auch. Einmal. Später erfuhr ich, dass zur Beichte eigentlich nur zugelassen sei, wer die heilige Taufe empfangen habe. Ich wusste nicht, was Taufe bedeutet, und nicht, was heilig. Ich hatte auch nicht gewusst, was Beichte bedeutet. Ich hatte es nur ausprobieren wollen. Ich hatte überhaupt keine Ahnung von Religion. Es ging auch nicht in meinen Kopf hinein, dass im Irgendwo-Nirgendwo einer sein soll, der allmächtig und allwissend ist, den aber noch nie jemand gesehen oder gehört hat, vor dem aber alle eine wahnsinnige Angst haben. Ich kannte eine Menge biblischer Geschichten, das schon, Opa hatte sie mir erzählt, mache auch Moma. Aber ich wusste nicht, dass die Erzählungen von Adam und Eva, von Jakob und seinen Söhnen, von Moses und dem Pharao, von König Salomon und König David, von Esther, Judith, Ruth, von Herodes, Johannes dem Täufer und Salome, von Anas, Kaiphas, Pontius Pilatus, von Jesus und den Aposteln einschließlich Judas Iskariot – ich wusste wirklich nicht, dass diese Geschichten als einzige echt waren und darum viel mehr wert als die Geschichten aus der Nibelungensage oder aus der Gesta Hungarorum oder die Sagen der ägyptischen Götter, von denen Herr Dr. Martin berichtet, oder die lustigen Anekdoten über Stalin, Bucharin, Radek, Trotzki und Sinowjew und andere Genossen, mit denen Major Hajós uns die Zeit im Zug nach Oostende verkürzt hatte, oder das Märchen von dem Spaßmacher Karl Wiktorowitsch Pauker, der immer so große Angst gehabt hatte. Ich betrat den Beichtstuhl, kniete mich in die Bank, schwieg und wartete. Hinter dem Holzgitter bewegte sich ein Kopf, der roch nach Tabak. Ich solle endlich beginnen, sagte eine Stimme, er habe nicht ewig Zeit. Ich fragte, womit. Ob ich denn noch nie gebeichtet hätte. Ich sagte, nein. Ob ich der Ungar sei. Ich sagte, ja. Da wurde die durch den Bart gefilterte Stimme lebhaft und wach: Er habe schon viel von mir gehört, nur das Beste; ob ich sicher sei, dass ich in meinem Leben überhaupt eine Sünde begangen hätte, ihm sei erzählt worden, ich sei der liebenswürdigste Schüler, der je das Heim besucht habe, man halte mich für einen kleinen Heiligen, »der kleine Heilige aus dem kommunistischen Reich des Bösen«. Er schmunzelte und schmunzelte gleich nicht mehr – ich denke, weil er fürchtete, mit dem Schmunzeln seine eigenen hochfliegenden Gedanken zu kompromittieren. Ich sagte, sicher sei ich mir nicht – weil ich ja auch nicht genau wusste, was eine Sünde ist. Ich war der letzte an diesem Beichttag, und die Stimme flüsterte, ich dürfe mir ruhig Zeit lassen, ich dürfe alles sagen, alles, alles, alles, es werde niemand erfahren, es bleibe ein ewiges Geheimnis zwischen mir, dem Beichtvater und Gott, das Beichtgeheimnis zu wahren sei das strengste Gebot, das Gott einem Priester auferlege, und in die Hölle gestoßen werde, wer es breche, ich solle ihm einfach mein Leben erzählen, von Anfang an, er werde aussortieren, was Sünde sei und was nicht. – Das tat ich.
     

3
     
    Der Liechtensteiner hieß Leif Lundin und wurde wegen seiner Haare »der Gelbe« genannt. Er war ein schlaksiger Kerl mit wundroten Lippen, der an den Werktagen viel zu nobel gekleidet war – dunkelblauer Blazer, beige Baumwollhose, weiße Segeltuchschuhe, ein Seidentuch unter dem Hemdkragen. Seine Jause brachte er nicht wie wir in die Schule mit, sondern holte in der großen Pause beim Metzger Marte oder im Käsegeschäft Moll telefonisch vorbestellte belegte Brötchen ab, die auf den Namen seines

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