Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
recht, gebe es nicht, noch nicht; und die Vergangenheit gebe es auch nicht, nicht mehr. Die Gegenwart sei der Punkt, in dem Zukunft und Vergangenheit sich treffen, aber ein Punkt sei bekanntlich so viel wie nichts, also gebe es die Gegenwart ebenfalls nicht; womit bewiesen sei, dass die Zeit nicht existiere. Es sei also persönlicher Geschmack, wo einer leben wolle, in der Gegenwart, in der Vergangenheit oder in der Zukunft. – Das leuchtete mir ein.
    »Und das Geld, das man in der Gegenwart braucht?«, fragte ich.
    »Das Gegenwartsgeld«, erläuterte mir Leif, »hat man in der Brieftasche und zu Hause im Safe. Man soll nie zu wenig Geld in der Brieftasche haben. Du musst immer mehr Geld in der Brieftasche haben als der andere. Sonst wirst du irgendwann dastehen und warten, bis die Bank öffnet, und dann kann es sein, dass du der zweite bist.«
    Wenn Leif und ich nicht bastelten oder uns über die Zukunft unterhielten oder über das Geld, lernten wir für die Schule – was für uns beide von Vorteil war, für mich, weil ich den Stoff der Klasse über mir mitbekam, für Leif, weil ich viel schneller kapierte als er und er sich von mir bequem alles erklären lassen konnte. »Wir beide«, sagte er, und nicht nur einmal sagte er das, »wir beide könnten sehr reich werden, wenn wir uns zusammentun.«
    Fünf Franken gab mir Leif pro Besuch. Er bezahlte in bar. Kein einziges Mal musste ich ihn daran erinnern. Wenn ich mir den Mantel oder die Jacke anzog, griff er in seine Hosentasche und holte ein Fünf-Franken-Stück hervor. Von Dezember 1964 bis zu den Sommerferien 1965 verdiente ich bei ihm 295 Franken.
     
    Meine Mutter wollte wissen, wo ich mich an den Nachmittagen herumtreibe und warum ich nicht mehr koche. Sie war im Krankenhaus angerufen worden, man habe Grund, sich um mich zu sorgen. Das war nun etwas, woran sie überhaupt nicht interessiert war. Zuerst habe sie geglaubt, es sei ein anonymer Anrufer, sie wollte ihm gerade, wie sie meinem Vater und mir versicherte, erklären, wie bei ihr die Musik spielt, als er sich als der Pater Präfekt vom Schülerheim Tschatralagant vorstellte. Warum sorgen, habe sie gefragt, schließlich sei ich in jedem Fach der Klassenbeste, die Lehrer seien begeistert von mir; sie, respektive ihr Mann, sei erst vor wenigen Tagen beim Elternsprechtag gewesen; vorbildlicher als dieser Sohn könne ein Sohn nicht sein, außerdem koche er zwei- bis dreimal in der Woche, und hinterher sei die Küche blitzblank aufgeräumt; das sei tatsächlich etwas unheimlich, falls er meine, deshalb solle sie sich sorgen, aber mit dieser Sorge könne sie gut leben. – Sie habe das Besetztzeichen gehört, er hatte aufgelegt.
    »Ich habe einen Freund gefunden«, sagte ich. »Ich denke, das ist meiner Entwicklung förderlich. Wir schmieden gemeinsam Pläne und denken über die Welt und die Zukunft nach. Habt ihr zum Beispiel Folgendes gewusst: Wenn jemand vor hundert Jahren eine Aktie von Standard Oil gekauft und es so eingerichtet hätte, dass von den Dividenden immer neue Aktien gekauft werden, und wenn er nicht eine Minute mehr gearbeitet hätte, und sein Ururenkel würde das Portfolio heute auflösen, dass diese Aktie mehr als tausendmal so viel wert wäre, habt ihr das gewusst? Das hat mir Leif Lundin erklärt, er ist der reichste Schüler, der je das Gymnasium besucht hat. Ich kann viel von ihm lernen.«
    Sie sah mich lange an, sah durch mich hindurch, und wie ich sie kannte, auch durch die Wand hindurch und sagte schließlich: »Führst du mir den Schlaumeier einmal vor?«
    Am nächsten Tag nahm ich Leif mit nach oben. Sonst wartete er immer unten auf der Straße, wenn ich nach der Schule meine Tasche zu Hause ablegte. Ich sagte, ich wolle ihm etwas zeigen, wusste aber nicht, was das hätte sein sollen; bei uns gab es nichts, was ihn hätte interessieren können. Meine Mutter hatte ihren freien Tag, sie hatte bis Mittag geschlafen, barfuß im Morgenmantel mit der Kaffeetasse in der Hand stand sie im Gang, als ich die Tür aufsperrte.
    »Das ist Leif«, sagte ich.
    Er gab ihr die Hand, und das war’s. Dann hakte er die Daumen lässig in die Gürtelschlaufen. Kein Wort hat er mit ihr gesprochen. Die Wangen hat er schmal gemacht, noch schmaler. Und schmale Augen hat er gemacht. Hob den Kopf, als ob es auf der Zimmerdecke etwas zu lesen gäbe, was seine Vorurteile bestätigte. Mir fiel ein, dass alles, was in unserer Wohnung stand, die eleganten Möbel, die mein Vater in Zürich ausgesucht hatte – zwei

Weitere Kostenlose Bücher