Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
uns, Gott ist nur einer, darum sind wir bei ihm.« Sie nannten mich einen kleinen Schriftgelehrten und lachten. Nur der Pater Präfekt lachte nicht.
Sie hätten mich gern als Internen gehabt, ganz und gar, mit Haut und Haar und Tag und Nacht; auf einen wie mich hätten sie »gehofft, seitdem das Heim besteht«, sagten sie zueinander, aber so laut, dass ich es hören konnte. Ich war freundlich, lächelte, hörte zu, nickte, beugte mich vor, setzte einen nachdenklichen Blick auf und ließ mir mit meinen Antworten Zeit, als wären es die Fragen wert, mehr als die üblichen Gedanken dafür aufzuwenden. Daraus schlossen sie auf einen tief in meiner Seele verankerten Glauben an ihren Gott, einen »natürlichen Glauben«, was unendlich mehr sei als ein »erworbener Glaube«; denn der natürliche – so der Pater Präfekt – entspringe »aus der Gnade und nicht aus der Bemühung – wie bei 99,999 Prozent der intelligenzfähigen Bipeden«. Zu solchen Wendungen verstieg sich dieser Mann in meiner Gegenwart; wie Herrn Dr. Martin und Major Hajós und etliche andere drängte es ihn danach, vor mir anzugeben und anzudeuten, auch er sei einer von denen, zu denen er mich rechnete – was auch immer das für welche sein mochten.
»Die Gnade ist der Taufname des Zufalls«, fuhr er mit Singsang in der Stimme fort, »und ich weiß, dass du weißt, was ich damit meine. Weißt du es, Andreas?«
»Weiß nicht«, sagte ich und lächelte in mich hinein und in mir hinunter. Nachdem man mir glaubhaft dargelegt hatte, dass – a: auch ich eine Seele besitze, und – b: außer Gott nur ich allein wissen könne, wie diese aussehe, hatte ich mir über deren Form den Kopf zerbrochen und war schließlich zur Anschauung gelangt, meine sei ein Brunnenschacht ohne Wasser, wo sich alle möglichen Allegorien – dieses Wort kannte ich natürlich nicht – aufhielten, zum Beispiel der Regen, den ich vor meinen Spaziergängen beschwor, nicht zu fallen, oder unser Opel Kapitän P 2,6 oder der Herd in unserer Küche oder ein Fischrezept, das ich immer wieder memorierte, bis ich es schmecken konnte, oder der königsblaue Samtpullover, den ich vor ein paar Wochen verloren hatte und mit dem ich mich manchmal unterhielt, aber auch Staff Sergeant Winship, den ich vor Entscheidungen um Rat fragte, und selbstverständlich meine ägyptischen Tiere und eben auch eine Sammlung von Worten, die an allen Ecken blinkten und glitzerten wie die Taler in Dagobert Ducks Geldspeicher – Liebe, Treue, Wahrheit, Mut, Weisheit –, Worte, die ich hochschätzte, obwohl ich sie nicht verstand, und von denen ich mir nicht vorstellen konnte, sie jemals in ehrlicher Absicht zu gebrauchen. Zu denen sortierte ich nun auch die Gnade.
»Weiß nicht«, sagte ich zum zweiten Mal. Ich war mir gewiss, der Präfekt würde diese Antwort für blitzklug und tiefgründig halten.
»Ja, Apostel Andreas, genau so«, sagte er, seine Augen große Kreise Blau.
Am nächsten Tag winkte er mich nach dem Mittagessen zu sich, legte den Zeigefinger dorthin, wo in seinem orangefarbenen Bart der Mund vermutet werden durfte, und raunte mir zu: »Nein, Andreas, umgekehrt! Der Zufall ist der Spitzname der Gnade! So ist es! Genau so. Ist das gut?«
Ich antwortete nicht.
Was ihn verunsicherte. »Die Gnade ist etwas Herrliches, der Zufall etwas … eher Niedriges.«
Ich antwortete wieder nicht.
Was ihn noch mehr verunsicherte. »Die Gnade kann schwer lasten, wie ein Fluch kann sie lasten. Ich weiß. Und du weißt auch. Aber ich weiß auch.«
Ich sah ihn an – diesmal ohne zu lächeln –, als wäre er ein Stück Holz und ich an Holz nicht interessiert, und ließ ein wenig Leid an meiner Unterlippe zerren. Er war verwirrt, verlegen, beschämt, entgeistert und begeistert. Ich spürte, wie sich der Seelenschacht in mir mit den hysterischen Träumen dieses Mannes füllte. Er starrte in mich hinein; was er sah, erschütterte ihn, als wäre der Schöpfer von Himmel und Erde herabgestiegen, allein, um ihn zu treffen.
»Gott sei meiner Seele gnädig«, flüsterte er.
Ich hatte keine Vorstellung davon, was er meinte, und tat wieder, als schaute ich tief in mich hinein. Wie konnte ein Mensch nur annehmen, dort unten sei der Sitz des wirklichen Lebens, in diesem Loch! Er nahm meine Hände, hob sie an seinen Bart und küsste sie. Er sah in der Verzweiflung den wahren Weg zum Heil – oder hätte in ihr gern diesen Weg gesehen – und war verzweifelt, dass er diese wahre Verzweiflung in sich nicht
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