Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Anschaffung war ein gebrauchter Opel Kapitän P 2,6; er hatte erst wenige Kilometer auf dem Tacho, war hochglänzend rostrot, hatte ein weißes Dach und war ausgestattet mit Zigarettenanzünder, Weißwandreifen, Lenkradschaltung, einem Autoradio Marke Blaupunkt und einer durchgehenden Sitzbank vorne sowie einem Fuchsschwanz an der Antenne und einem Sonnenschutz aus grünem Plexiglas über der Windschutzscheibe. Außer dem Opel, das möchte ich erwähnen, standen ernsthaft noch ein Ford Taunus 17m und ein Mercedes Benz W 112 mit Sechszylindermotor zur Auswahl. Ernsthaft deswegen, weil auch der Name Cadillac Eldorado Biarritz in die Diskussion geworfen wurde – von mir. Immerhin hat mein Vater Bilder beschafft, das schönste Auto auf der ganzen Welt, das fand auch meine Mutter, und mein Vater sagte: »Wartet noch ein Weilchen!« Für den Ford Taunus 17m sprach meiner Meinung nach das kleine m, das »Meisterstück« bedeutete, und ich meinte, das müsse man ernst nehmen; und er hatte einen »Vierzylinder-Viertakt-V-Motor mit Ausgleichswelle«, was sich bis in den Schlaf hinein vor sich hersagen ließ. Für den Mercedes plädierte zunächst meine Mutter; der entschlossene Kühlergrill gefiel ihr und auch die Ansätze von Heckflossen, aber er war mit Abstand der teuerste, natürlich abgesehen vom Cadillac – was für meinen Vater durchaus ein Grund gewesen wäre, ihn zu nehmen. Schließlich hatten wir uns – jeder ohne das Gefühl der Niederlage – auf den Kapitän geeinigt; er hatte ebenfalls Heckflossen, sah amerikanischer aus als der Mercedes und das Meisterstück, und zum Vor-sich-her-Sagen gab es bei ihm auch etwas – »3-Gang-Hydramatic-Getriebe und Servolenkung«.
An den Sonntagen fuhren wir in der Gegend herum, ich saß vorne zwischen Mama und Papa, die Landkarte auf den Knien; wir fuhren in die Schweiz hinüber, Vierwaldstätter See, Via Mala, oder kurz nach Liechtenstein, um unter der Burg einen Kaffee zu trinken; wir fuhren nach Norden zum Bodensee und weiter ins schwäbische Land hinein bis zum Schwarzwald oder nach Süden in die Berge – zum Beispiel über endlose Serpentinen einer Hochalpenstraße zu einem Stausee auf 2037 Meter über dem Meeresspiegel, wo wir die nackten Füße ins Gletscherwasser hängten und wetteten, wer es am längsten aushielt. Einmal fuhren wir während der Woche nach Zürich, um nach unserem Konto bei der SBG zu sehen. Wir aßen in dem berühmten Restaurant Kronenhalle ein Rahmgeschnetzeltes mit Rösti, dazu einen lauwarmen Krautsalat und zum Nachtisch Nusseis mit schwarzer Schokoladensoße (zu Hause kochte ich das Geschnetzelte nach, die Rösti gelangen mir nicht). In dem nicht minder berühmten Warenhaus Jelmoli kauften wir einen Picknickkorb mit allem Drum und Dran, den konnten wir bei unseren Ausflügen gut gebrauchen … als wären wir frisch auf die Welt gekommen, als wüssten wir nichts von Wien, nichts von Moma, nichts von Opa (nach Angaben des Arztes, den Mama ins Gebet genommen hatte, war Opa verhungert, er hat einfach nichts mehr runtergekriegt); nichts von Ungarn, nichts von den eineinhalb Millionen Karteikarten, die in der ÁVH-Abteilung Nyilvántartási Osztályon archiviert waren – darunter eine über Mama, eine über Papa, eine über mich. Über all das sprachen wir nicht ein Wort. Hier war die Sonne heller, die Luft reiner, das Wasser durchsichtiger und der Schweizer Zucker süßer. Als wären wir gesattelt und gepolstert gegen Katastrophen jeder Art – während sich der Wirbel bereits drehte, der sich am Ende innerhalb weniger Sekunden zum Orkan erheben und mich für immer aus diesem Leben katapultieren würde.
Papa hatte inzwischen ausreichend Deutsch gelernt; seinen Akzent bekam er nie los, was aber bei seiner Arbeit kein Handicap war. Seinen – eigentlich unwahrscheinlichen – Aufstieg verdankte er bestimmt auch der Lüge, er sei Doktor der Ökonomie, gewiss aber der Fähigkeit, zuzuhören und seinem Gegenüber das Gefühl zu geben, sich endlich einmal ausbreiten zu dürfen, ohne an Zeit und Thema erinnert zu werden. Er war immer der Meinung gewesen, die Vorschläge der anderen seien die besseren; seine Aufgabe sah er darin, diese Vorschläge umzusetzen – indem er ihre konkrete Erledigung delegierte, denn er war auch der Meinung, die anderen könnten besser umsetzen als er. Er hörte zu. Das konnte niemand so elegant wie er. Elegant zuhören – ich habe diese Kunst geübt. Er war gepflegt, roch sympathisch, manikürte sich die Fingernägel, hatte
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