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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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blendend weiße Zähne, die er jeden Abend, bevor er zu Bett ging, mit Salz abrieb; bewies täglich seinen Geschmack in der Garderobe; verlor nie die Contenance. Hörte zu. Bot an. Nickte. Beugte sich vor. Setzte einen Blick auf, als denke er über das Gehörte nach. Wenn ihn jemand etwas fragte, ließ er sich mit der Antwort Zeit und signalisierte damit, dass es die Frage wert sei, mehr als die üblichen Gedanken dafür aufzuwenden. Das steigerte seine Beliebtheit bei Vorgesetzten und Untergebenen. Wer zu schnell Antwort weiß, schätzt das Niveau der Frage als gering ein und somit auch das Niveau des Fragers. Zu Hause erzählte er nur selten von seiner Tätigkeit; nie habe ich ihn etwas Negatives sagen hören. Er lobte. Er kam abends nicht weniger frisch von der Arbeit zurück, als er nach dem Frühstück zu ihr aufgebrochen war. Die Firma blühte und wuchs.
    Mama war so viel beschäftigt, dass ich sie manchmal tagelang nicht sah, weil sie entweder die Wohnung verließ, bevor ich erwachte, und kam, nachdem ich bereits schlafen gegangen war, oder weil sie im Krankenhaus übernachtete. Sie war glücklich, siebenhundert Kilometer von ihrer Mutter entfernt zu leben. Der Zug nach unten um ihren linken Mundwinkel war nicht verschwunden, aber die Bitterkeit hielt sich in Latenz. Sie war glücklich mit Papa, der immer schöner und erlesener wurde; sie war glücklich, Menschen mit einer Spritze schachmatt zu setzen, je größer und dicker, desto besser. Und sie war glücklich über ihren Entschluss, sich nicht mehr um mich zu sorgen. Längeren Gesprächen mit mir wich sie aus. Sie machte mir keine Vorschriften, widersprach mir nicht. Ich bildete mir ein, sie beobachte mich heimlich. Sie tat, als wäre ich erwachsen.
    Ich spazierte an der Ill entlang – so hieß der Fluss – bis hinunter zum Rhein und auf den Wegen kreuz und quer durch die Auwälder. Mit vierzehn rasierte ich mich zum ersten Mal. Ich sah aus wie sechzehn, und meine Stimme näherte sich der Stimme eines Mannes an. Als John F. Kennedy ermordet wurde, war der Stimmbruch vollzogen.
     

2
     
    Ich besuchte das humanistische Gymnasium. An manchen Nachmittagen war ich Gast in einem katholischen Schülerheim, wo ich zu Mittag aß und anschließend im Studiersaal meine Hausaufgaben erledigte und in der Pause Tischtennis spielte. Unser Klassenvorstand hatte meinen Eltern vorgeschlagen, mich für die Tage, wenn sie selbst zu viel zu tun hätten, als Externen anzumelden. Damit ich nicht so viel allein sei – und damit auch andere »an seiner Intelligenz und seinem lieben Wesen Anteil nehmen dürfen«. Mir war es recht.
    Das Heim hieß Tschatralagant, nach dem Hügel, an dem es stand; es wurde von Kapuzinern geleitet. Ich war einer von vier Externen, die nach dem Abendessen nach Hause zurückkehrten – da waren der Sohn eines Richters, er galt als schwer erziehbar; weiters ein schüchterner, schmächtiger Bauernbub, der am Abend mit dem Bus ins nächste Dorf zum Hof seiner Eltern fuhr; und der »reichste Schüler, der je das Gymnasium besucht hat« (stand so im Jahresbericht der Schule!), ein blonder Kerl in meinem Alter, der eine Klasse über mir war. Er wohnte in Liechtenstein, wo seine Eltern eine Villa und einen Weinberg besaßen.
    Der Richterssohn, der Liechtensteiner und ich, wir kamen, wenn wir wollten, und wenn wir nicht wollten, kamen wir nicht. Abgerechnet wurde nach Besuchstagen, drei unserer Tage kosteten mehr als ein ganzer Monat für einen Internen; der Bauernbub war umsonst. Wir hatten uns an die Vorschriften zu halten, solange wir uns auf dem Territorium des Heimes aufhielten, mehr wurde von uns nicht verlangt. Ich war beliebt. Die anderen drei nicht. Ich war bei den Schülern beliebt und bei der Heimleitung. Die Patres in ihren braunen Kutten, mit der Kapuze am Rücken und dem Strick um den Bauch, konnten sich nicht sattsehen an mir. Sie nahmen mich in ihre Mitte, schüttelten entzückt den Kopf über jedes Wort, das ich von mir gab, luden mich als einzigen ins Paterzimmer zum Essen ein, lasen mir aus der Heiligen Schrift vor und beobachteten dabei mein staunendes Gesicht. Auch über Markus 5,1–20 diskutierten wir. Sie fragten mich, wie ich die Stelle mit dem Besessenen und den zweitausend Schweinen auslegte. Ich stellte die Theorie auf, dass neben, hinter oder vor jedem Menschen mindestens ein Teufel stehe und gehe, und manche Menschen seien eben umstellt von zweitausend Teufeln, wie dieser arme, arme Mann. »Teufel sind viele, darum sind sie bei

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