Die Abenteuer des Sherlock Holmes Bd.1
gebracht, und ich selbst vermochte kaum, seinem Charme zu widerstehen. Er ist älter als Arthur, ein Mann von Welt bis in die Fingerspitzen, einer, der überall gewesen ist, alles gesehen hat, ein brillanter Unterhalter, und er ist ein schöner Mann. Doch wenn ich mit kühlem Kopf an ihn denke, entfernt vom Zauber seiner Gegenwart, und mich an seine zynischen Reden erinnere, an den Ausdruck, den ich in seinen Augen entdeckte, bin ich davon überzeugt, daß man ihm gründlich mißtrauen sollte. So denke ich, und so denkt auch meine kleine Mary, die mit dem Scharfblick einer Frau den wahren Charakter zu enthüllen versteht.
Nun bleibt nur noch, sie zu beschreiben. Sie ist meine Nichte, doch ich habe sie adoptiert, als mein Bruder vor fünf Jahren starb und sie allein in der Welt stand. Seitdem sehe ich sie als meine Tochter an. Sie ist der Sonnenschein meines Hauses – süß, liebevoll, schön, eine wunderbare Hausherrin und Haushälterin, dabei feinfühlig, ruhig und zart, wie nur eine Frau sein kann. Sie ist meine rechte Hand. Ich weiß nicht, was ich ohne sie anfangen sollte. Nur in einem hat sie sich gegen meinen Wunsch gestellt. Zweimal hat mein Sohn sie gebeten, ihn zu heiraten, denn er liebt sie von Herzen, aber jedesmal hat sie ihn abgewiesen. Ich glaube, wenn ihn jemand auf den rechten Weg hätte zurückführen können, dann wäre sie es gewesen, eine Heirat mit ihr hätte sein ganzes Leben verändert. Aber nun ist es leider zu spät – für immer zu spät.
Jetzt, Mr. Holmes, kennen Sie die Menschen, die unter meinem Dach leben, und ich kann mit meiner unglückseligen Geschichte fortfahren.
Als wir an jenem Abend im Salon nach dem Dinner Kaffee tranken, erzählte ich Arthur und Mary von meinem Erlebnis und von dem Schatz, den wir beherbergten. Nur den Namen des Kunden behielt ich für mich. Lucy Parr, die den Kaffee serviert hatte, war schon aus dem Zimmer gegangen – dessen bin ich gewiß, aber ich kann nicht beschwören, daß die Tür nicht offenstand. Mary und Arthur zeigten sich sehr interessiert und wollten die berühmte Krone sehen. Aber ich hielt es für besser, sie nicht aus dem Versteck zu holen.
›Wohin hast du sie getan?‹ fragte Arthur.
›In die Kommode.‹
›Na, dann bete ich zu Gott, daß hier heute nacht nicht eingebrochen wird‹, sagte er.
›Die Kommode ist abgeschlossen‹, sagte ich.
›Oh, da paßt doch jeder alte Schlüssel. Als ich noch ein Junge war, habe ich sie selber mit dem Schlüssel vom Schrank in der Rumpelkammer aufbekommen.‹
Er redet oft unbesonnen, so daß ich mir kaum Gedanken über das machte, was er sagte.
An dem Abend folgte er mir in mein Zimmer, und sein Gesicht war sehr ernst.
›Hör mal, Papa‹, sagte er mit niedergeschlagenem Blick, ›kannst du mir zweihundert Pfund geben?‹
›Nein, das kann ich nicht‹, antwortete ich heftig. ›Ich war in Geldsachen dir gegenüber immer viel zu großzügig.‹
›Du warst immer sehr freundlich‹, sagte er. ›Aber ich muß das Geld haben, oder ich kann mich im Club nicht mehr sehen lassen.‹
›Das wäre überhaupt das beste‹, rief ich.
›Ja, schon, aber du willst doch wohl nicht, daß ich in Unehren ausscheide‹, sagte er. ›Ich könnte die Schande nicht ertragen. Irgendwie muß ich das Geld beschaffen, und wenn du es mir nicht geben willst, muß ich auf andere Weise dranzukommen suchen.‹
Ich war sehr zornig, denn das war die dritte Forderung, die er innerhalb des Monats an mich richtete. ›Keinen Penny bekommst du von mir‹, rief ich, woraufhin er sich verbeugte und wortlos ging.
Als er aus dem Zimmer war, schloß ich die Kommode auf, vergewisserte mich, daß mein Schatz noch da war, und sperrte sie wieder zu. Dann machte ich einen Gang durch das Haus, um mich zu überzeugen, ob alles für die Nacht seine Ordnung hatte. Das ist eine Pflicht, die ich gewöhnlich Mary versehen lasse, aber an diesem Abend, dachte ich mir, sollte ich sie selber übernehmen. Als ich die Treppe hinunterstieg, bemerkte ich Mary, wie sie das Seitenfenster der Halle zuklappte und verriegelte.
›Hör mal, Papa‹, sagte sie, und sie schien mir ein wenig verstört, ›hattest du Lucy für heute abend Ausgang gegeben?‹
›Gewiß nicht.‹
›Sie ist gerade eben durch die Hintertür hereingekommen. Sie war bestimmt am Zaun, um sich mit jemandem zu treffen. Das finde ich ziemlich gefährlich, und es sollte aufhören!‹
›Sprich
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