Die Abenteuer des Sherlock Holmes Bd.1
welche andere Erklärung gibt es?« rief der Bankier, von Verzweiflung bewegt. »Wenn er unschuldig ist, warum sagt er es denn nicht?«
»Das herauszufinden ist unsere Aufgabe«, er
widerte Holmes. »Wenn es Ihnen genehm ist, Mr. Holder, begeben wir uns gemeinsam nach Streatham und werden eine Stunde darauf verwenden, die Einzelheiten ein bißchen näher zu betrachten.«
Mein Freund wünschte dringend, daß ich die Expedition begleitete, und ich willigte gern ein, da die Geschichte, die wir gehört hatten, meine Neugier und mein Mitgefühl aufgewühlt hatte. Ich gebe zu, daß für mich die Schuld des Sohnes genauso feststand wie für seinen unglücklichen Vater; dennoch setzte ich mein Vertrauen in Holmes’ Urteil und fühlte, es müsse einen Grund zur Hoffnung geben, solange er mit der dargebotenen Erklärung unzufrieden war. Auf dem ganzen Weg zu dem südlichen Vorort sprach er kein Wort; er saß, das Kinn auf der Brust, den Hut über die Augen geschoben, in tiefes Denken versunken. Unser Klient schien angesichts des Hoffnungsschimmers wieder Mut gefaßt zu haben; er begann sogar ein flüchtiges Gespräch mit mir über seine Geschäftsangelegenheiten. Nach einer kurzen Bahnfahrt und einem noch kürzeren Spaziergang erreichten wir Fairbank, die bescheidene Residenz des großen Bankiers.
Fairbank war ein recht großes, viereckiges Haus aus weißem Stein. Es lag ein Stück abseits der Straße. Durch einen schneebedeckten Rasen zog sich eine zweispurige Auffahrt zu den zwei großen eisernen Toren hin, die das Anwesen abschlossen. Zur Rechten wucherte ein Gebüsch, aus dem ein schmaler Pfad kam, der weiter zwischen sauber geschnittenen Hecken zum Lieferanteneingang führte. Ein Weg auf der linken Seite lief in Richtung der Ställe, gehörte aber nicht zum Anwesen, sondern war der Öffentlichkeit zugänglich, wenn auch wenig benutzt. Holmes ließ uns vor der Tür stehen und schritt langsam um das Haus herum, an der Vorderfront entlang, über den Lieferantenpfad und durch den dahinter liegenden Garten zum Stallweg. Das dauerte so lange, daß Mr. Holder und ich uns inzwischen in den Salon begaben, um vorm Feuer seine Rückkunft zu erwarten. Wir saßen und schwiegen, da öffnete sich die Tür, und eine junge Dame trat ein. Sie war etwa mittelgroß und schlank, hatte dunkles Haar und Augen, die im Kontrast zu der tiefen Blässe ihrer Haut noch einen Schein dunkler wirkten. Ich glaube, ich habe nie wieder ein weibliches Gesicht von solcher Totenblässe gesehen. Auch ihre Lippen waren blutleer, und die Augen waren vom Weinen gerötet. Wie sie lautlos in den Raum kam, beeindruckte sie mich durch ihren Kummer mehr als der Bankier am Morgen, und das überraschte mich besonders deshalb, weil sie dem Anschein nach einen starken Charakter und eine große Fähigkeit zur Selbstbeherrschung besaß. Sie beachtete meine Gegenwart nicht, sondern ging geradewegs auf ihren Onkel zu und strich ihm zärtlich über den Kopf.
»Hast du Anweisung gegeben, daß man Arthur freiläßt, Papa?« fragte sie.
»Nein, nein, mein Mädchen. Die Sache muß gründlich geklärt werden.«
»Aber ich bin gewiß, daß er unschuldig ist. Du weißt, wie sicher der weibliche Instinkt urteilt. Ich weiß, er hat kein Unrecht begangen. Es wird dir leid tun, daß du so streng gehandelt hast.«
»Warum schweigt er denn, wenn er unschuldig ist?«
»Wer weiß? Vielleicht, weil er wütend darüber ist, daß du ihn verdächtigt hast.«
»Wie sollte ich ihn nicht verdächtigen, da ich ihn doch mit der Krone in der Hand sah?«
»Er hat sie nur genommen, um sie zu betrachten. Ach, glaub mir doch, er ist unschuldig. Gib die Sache auf und sag nichts mehr gegen ihn. Der Gedanke, daß unser lieber Arthur im Gefängnis sitzt, ist so schrecklich.«
»Ich gebe nicht auf, ehe die Steine gefunden sind, Mary. Deine Zuneigung zu Arthur macht dich für die fürchterlichen Konsequenzen blind, denen ich mich gegenübersehe. Anstatt es unter den Teppich zu kehren, habe ich einen Herrn aus London mitgebracht, der alles gründlich untersuchen wird.«
»Diesen Herrn?« fragte sie, indem sie mich anschaute.
»Seinen Freund. Er wollte allein sein. Er ist draußen auf dem Stallweg.«
»Auf dem Stallweg?« Sie hob die dunklen Brauen. »Was hofft er dort zu entdecken? Ah, da kommt er, glaube ich. – Ich vertraue Ihnen, Sir, daß Sie beweisen können, was ich als die Wahrheit fühle: Mein Vetter Arthur trägt an dem Verbrechen
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