Die Abenteuer des Sherlock Holmes Bd.1
ich noch klar denken kann und körperlich auch noch stark bin, weiß ich, mein Schicksal ist besiegelt. Aber mein Ruf und mein Kind! Beides konnte gerettet werden, wenn es mir gelang, die böse Zunge zum Schweigen zu bringen. Ich tat es, Mr. Holmes. Ich würde es wieder tun. So schwer ich auch gesündigt habe, ich habe mit dem Leben eines Märtyrers dafür gesühnt. Daß mein Mädchen in denselben Maschen verstrickt werden sollte, in denen ich hing, war mehr, als ich aushalten konnte. Ich streckte ihn nieder ohne Gewissensbisse, als handelte es sich um eine böse und schädliche Bestie. Sein Schrei brachte den Sohn zurück, aber ich hatte schon wieder im Wald Deckung gefunden, obgleich ich noch einmal zurückgehen mußte, um den Mantel zu holen, den ich auf der Flucht verloren hatte. Das, meine Herren, ist der wahre Hergang.«
»Es steht mir nicht an, Sie zu richten«, sagte Holmes, als der Alte das Protokoll unterschrieb. »Ich bete darum, daß wir nie einer solchen Versuchung ausgesetzt sein mögen.«
»Ich bete nicht, Sir. Und was werden Sie jetzt tun?«
»In Anbetracht Ihrer Gesundheit – nichts. Sie sind sich selber im klaren darüber, daß Sie sich für Ihre Tat bald vor einer höheren Instanz als vor einem Gericht verantworten müssen. Ich behalte Ihr Geständnis, und falls man McCarthy schuldig befindet, werde ich genötigt sein, Gebrauch davon zu machen. Wenn nicht, wird nie das Auge eines Sterblichen es erblicken; Ihr Geheimnis, gleich ob Sie leben oder tot sein werden, ist bei uns sicher aufgehoben.«
»So leben Sie denn wohl«, sagte der alte Mann feierlich. »Ihre Sterbelager, wenn es einmal soweit ist, werden für Sie leichter sein bei dem Gedanken an den Frieden, den Sie dem meinen gegeben haben.« Seine riesige Gestalt schwankte und bebte, als er sich langsam aus dem Zimmer entfernte.
»Gott möge uns beistehen«, sagte Holmes nach einem langen Schweigen. »Warum spielt das Schicksal so mit der armen, hilflosen Kreatur? Immer, wenn ich von einem Fall wie diesem höre, denke ich an Baxters Worte und sage mit ihm: ›Dort geht Sherlock Holmes dahin, wenn nicht Gottes Gnade gewesen wäre.‹«
James McCarthy wurde unterm Gewicht einer Reihe von Einwänden, die Sherlock Holmes vorbrachte, freigesprochen. Der alte Turner lebte nach unserem Gespräch noch sieben Monate. Jetzt ist er tot, und es besteht alle Aussicht, daß der Sohn und die Tochter miteinander glücklich sein werden, da sie von der schwarzen Wolke, die ihre Vergangenheit überschattet, nichts wissen.
Fünf Apfelsinenkerne
Wenn ich meine Notizen und Berichte von Sherlock Holmes’ Fällen zwischen 1882 und 1890 überblicke, sehe ich vor mir so vieles, das außergewöhnliche und interessante Züge darbietet, daß es keine leichte Sache ist, zu entscheiden, was auszuwählen und was unbeachtet zu lassen. Einige Fälle sind durch die Zeitungen bekannt geworden, andere haben nicht die besonderen Qualitäten herausgefordert, die mein Freund in so hohem Maße besitzt und die hervorzuheben das Anliegen dieser Aufzeichnungen ist. Einige weitere Fälle sind seinem analytischen Geschick zuwidergelaufen und würden als Erzählungen Anfänge ohne Ende sein, während wieder andere nur teilweise aufgeklärt wurden und ihre Lösungen eher durch Zufall und Vermutungen als durch strengen logischen Beweis, den er über alles schätzte, zustande kamen. Von den letzteren ist einer so bemerkenswert in den Einzelheiten und so überraschend in den Ergebnissen, daß ich versucht bin, ihn wiederzugeben, obwohl es im Zusammenhang mit ihm Fragen gibt, die nicht gänzlich aufgeklärt worden sind und die wahrscheinlich nie aufgeklärt werden können.
Das Jahr ‘87 bescherte uns eine große Anzahl Fälle bedeutenden oder geringeren Interesses: von allen besitze ich Aufzeichnungen. In der Übersicht über diese zwölf Monate finde ich das Abenteuer mit der ›Paradol Chamber‹, der Vereinigung der Amateurbettler, die einen luxuriösen Klub im Keller einer Möbelhandlung unterhielt, die Ereignisse in Verbindung mit dem Verlust der britischen Barke ›Sophie Anderson‹, die einmaligen Abenteuer der Grice Patersons auf der Insel Uffa und schließlich auch den Camberwell-Giftmord. Im letzteren Falle konnte Sherlock Holmes, wie man sich vielleicht erinnern wird, dadurch, daß er die Uhr des toten Mannes aufzog, beweisen, daß sie zwei Stunden vorm Tode aufgezogen worden war und also der Verstorbene während dieser Zeitspanne zu Bett
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