Die Abenteuer des Sherlock Holmes
werden. Es liegt ein großer Irrtum vor, den klarzustellen einige Zeit dauern kann. Warte geduldig. – Neville.‹ Mit Bleistift auf das Vorsatzblatt eines Buchs geschrieben, Oktavformat, kein Wasserzeichen. Heute in Gravesend von einem Mann mit schmutzigem Daumen aufgegeben. Ha! Und wenn ich mich nicht sehr irre, ist die Gummierung der Couvertklappe von einer Person abgeleckt worden, die Tabak kaut. Und Sie sind sicher, daß dies die Handschrift Ihres Mannes ist, Madame?«
»Ja, völlig. Neville hat das geschrieben.«
»Und aufgegeben heute in Gravesend. Nun, Mrs. St. Clair, die Wolken lichten sich, obwohl ich noch nicht zu sagen wage, daß die Gefahr vorüber ist.«
»Aber er muß doch wohl leben, Mr. Holmes.«
»Wenn dies nicht eine schlaue Fälschung ist, um uns auf eine falsche Spur zu bringen. Schließlich beweist der Ring nichts. Man könnte ihn ihm abgenommen haben.«
»Nein, nein; das, das, das ist seine eigene Handschrift!«
»Nun gut. Der Brief könnte aber am Montag geschrieben und erst heute abgeschickt worden sein.«
»Das ist möglich.«
»Wenn es so ist, dann kann inzwischen viel geschehen sein.«
»Oh, bitte, entmutigen Sie mich nicht, Mr. Holmes. Ich weiß, daß es ihm gut geht. Wir sind einander so nah, daß ich es wüßte, wenn ihm etwas Schlimmes zustieße. Noch an dem Tag, an dem ich ihn das letzte Mal gesehen habe, hat er sich im Schlafzimmer geschnitten, und ich bin aus dem Speisezimmer die Treppe hinauf gelaufen, weil ich völlig sicher war, daß sich etwas ereignet hatte. Glauben Sie denn, ich würde auf solch eine Kleinigkeit reagieren und doch von seinem Tod nichts wissen?«
»Ich habe zuviel erlebt, um nicht zu wissen, daß die Eindrücke einer Frau wertvoller sein können als die Schlußfolgerungen eines analytischen Denkers. Und mit diesem Brief haben Sie sicherlich ein sehr starkes Indiz, das Ihre Meinung stützt. Wenn aber Ihr Gatte lebt und imstande ist, Briefe zu schreiben, warum hält er sich dann fern von Ihnen?«
»Ich weiß es nicht. Ich kann es mir nicht denken.«
»Und er hat am Montag nichts gesagt, bevor er Sie verlassen hat?«
»Nein.«
»Und Sie waren überrascht, ihn in der Swandam Lane zu sehen?«
»Sehr sogar.«
»War das Fenster geöffnet?«
»Ja.«
»Dann hätte er Ihnen etwas zurufen können?«
»Das hätte er.«
»Wenn ich Sie recht verstehe, hat er nur einen unartikulierten Schrei ausgestoßen?«
»Ja.«
»Sie glauben, es war ein Hilfeschrei?«
»Ja. Er hat mit den Händen gestikuliert.«
»,Es hätte aber doch auch ein Überraschungsruf sein können. Überraschung bei Ihrem unerwarteten Anblick könnte ihn dazu gebracht haben, die Hände zu heben.«
»Das ist möglich.«
»Und Sie meinen, er wurde weggezerrt?«
»Er ist so plötzlich verschwunden.«
»Er könnte zurückgesprungen sein. Sie haben sonst niemanden im Raum gesehen?«
»Nein, aber dieser schreckliche Mann hat zugegeben, dort gewesen zu sein, und der Laskare war am Fuß der Treppe.«
»Das ist richtig. Soweit Sie sehen konnten, hatte Ihr Mann seine gewöhnlichen Kleider an?«
»Aber ohne Kragen und Krawatte. Ich habe ganz deutlich seinen nackten Hals gesehen.«
»Hat er je von der Swandam Lane gesprochen?«
»Niemals.«
»Hat er jemals Anzeichen aufgewiesen, daß er Opium nimmt?«
»Niemals.«
»Ich danke Ihnen, Mrs. St. Clair. Das sind die wichtigsten Punkte, die ich unbedingt klarstellen wollte. Wir werden nun ein kleines Supper zu uns nehmen und uns dann zurückziehen, denn es kann sein, daß wir morgen einen sehr anstrengenden Tag haben.«
Man hatte uns einen großen, gemütlichen Raum mit zwei Betten zur Verfügung gestellt, und ich schlüpfte schnell zwischen die Decken, denn ich war müde, nach meiner abenteuerlichen Nacht. Sherlock Holmes jedoch war ein Mann, der viele Tage oder gar eine Woche ohne Schlaf auskam, wenn er ein ungelöstes Problem mit sich herumtrug; dann pflegte er es hin und her zu wälzen, die Tatsachen anders zu sortieren, es aus allen möglichen Blickwinkeln zu untersuchen, bis er es entweder ausgelotet oder sich davon überzeugt hatte, daß seine Daten nicht ausreichten. Mir war es bald offensichtlich, daß er sich auf eine Nachtsitzung vorbereitete. Er entledigte sich des Rockes und der Weste, streifte einen langen blauen Schlafrock über und begab sich dann auf eine Wanderschaft durch das Zimmer, bei der er die Kissen von seinem Bett, dem Sofa und den Lehnsesseln sammelte. Mit ihnen verfertigte er eine Art östlichen Divans, auf dem er
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