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Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Titel: Die Abenteuer von Aguila und Jaguar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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auf einer Trancereise zu sein.
    »Da ist es: das Tal der Yetis«, verkündete der Lama mit einer ausladenden Handbewegung.
    Vor ihnen lag ein vulkanisches Hochtal. Zwischen den Schneefeldern wuchsen Büschel harter graugrüner Gräser, dichtes Gestrüpp und große Pilze in allen Formen und Farben. Hier gab es Bäche und Tümpel mit blubberndem Wasser, türmte sich Lavagestein zu merkwürdigen Gebilden, und in hohen Fontänen schoss weißer Dampf aus dem Boden. Über allem lag ein zarter Dunst, in dem die Konturen der Berge ringsum verschwammen und das weite Tal wie verzaubert wirkte. Die beiden Besucher fühlten sich, als hätten sie ihre Welt verlassen und wären in einer anderen Dimension wieder zu sich gekommen. So viele Tage hatten sie die schneidende Kälte in den Bergen ertragen müssen, jetzt empfanden sie die laue Luft hier als ein Geschenk für all ihre Sinne, vergaßen sogar den brechreizerregenden Gestank, der auch jetzt noch vorhanden war, allerdings nicht mehr so stark wie in der Schlucht.
    »Früher haben bestimmte Lamas, die man sorgfältig auswählte, weil sie körperlichen Strapazen gewachsen und spirituell gefestigt sein mussten, diese Reise alle zwanzig Jahre gemacht, um Heilpflanzen zu sammeln, die es nur hier gibt«, erklärte Tensing.
    So vieles war anders geworden, seit die Chinesen 1950 Tibet überfallen hatten. Sechstausend Klöster hatten sie zerstört, und die übrigen waren geschlossen worden. Die meisten Lamas waren in andere Länder ins Exil gegangen, viele nach Indien und Nepal oder ins Reich des Goldenen Drachen, wo sie weiter nach den Lehren Buddhas lebten. Die chinesischen Invasoren hatten also eher das Gegenteil von dem erreicht, was sie wollten: Sie hatten den Buddhismus nicht ausgerottet, sondern dazu beigetragen, ihn in die ganze Welt zu tragen. Dennoch war seither viel vom medizinischen Wissen und den geistigen Fähigkeiten der Lamas in Vergessenheit geraten.
    »Die Pflanzen wurden getrocknet, zerrieben und mit anderen Zutaten vermischt. Ein Gramm dieses Pulvers kann wertvoller sein als alles Gold der Welt«, sagte der Meister.
    »Wir können nicht viel mitnehmen. Schade, dass wir kein Yak dabeihaben.«
    »Ein Yak wäre vielleicht nicht freiwillig auf einer Holzstangeüber einen Abgrund balanciert. Wir nehmen mit, was wir tragen können.«
    Sie gingen weiter hinein in das geheimnisvolle Tal und waren noch nicht weit gekommen, da stießen sie auf etwas, das aussah wie ein Gerippe. Der Lama erklärte seinem Schüler, es seien versteinerte Knochen von einem Tier, das vor der großen Sintflut gelebt habe. Auf allen vieren suchte er den Boden ab, bis er einen dunklen Stein mit roten Sprenkeln fand.
    »Schau, Dil Bahadur, Drachenkot. Er hat magische Kräfte.«
    »Ich soll nicht alles glauben, was ich höre, Meister, richtig?«
    »Schon, aber vielleicht kannst du mir diesmal glauben.« Der Lama hielt ihm das Stück hin.
    Der Prinz zögerte. Er fand es nicht eben verlockend, so etwas anzufassen.
    »Er ist versteinert«, lachte Tensing. »Man kann damit gebrochene Knochen in wenigen Minuten heilen. Eine Prise davon, gemahlen und in Reisschnaps gelöst, kann wahre Wunder wirken.«
    In dem Brocken, den Tensing gefunden hatte, war ein kleines Loch, und der Lama fädelte einen Lederriemen hindurch und band ihn Dil Bahadur um den Hals.
    »Das ist so gut wie ein Kettenhemd, es hat nämlich auch die Fähigkeit, bestimmte Metalle abzuwehren. Pfeile, Messer und andere Waffen, die eine Schneide haben, werden dir nichts anhaben können.«
    »Aber vielleicht genügt ein entzündeter Zahn oder einmal Stolpern auf dem Eis oder ein Steinschlag auf den Kopf, und ich falle tot um …« Der Prinz lachte.
    »Wir sterben alle, nur das steht unabänderlich fest, Dil Bahadur.«
    ~
    Der Lama und der Prinz ließen sich neben einer der Dampffontänen nieder und freuten sich auf die erste angenehme Nacht seit Tagen, denn die dicke Dampfsäule würde sie warm halten. Mit dem Wasser einer nahen heißen Quelle hatten sie Tee aufgebrüht. Das Wasser trat kochend aus dem Fels, und wenn sich das Geblubber legte, sah man, dass es blass lavendelfarben war. Die Quelle speisteeinen dampfenden Bach, an dessen Ufern fleischige dunkelviolette Blumen wuchsen.
    Tensing schlief fast nie. Stattdessen ruhte er sich mit halb geschlossenen Augen im Lotossitz aus. Während er vollkommen reglos dasaß, konnte er seine Atmung und den Herzschlag verlangsamen, seinen Blutdruck und die Körpertemperatur senken und erreichte damit eine

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