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Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Titel: Die Abenteuer von Aguila und Jaguar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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musste es mit diesem Hünen aufnehmen, der Muskeln wie ein Gewichtheber hatte.
    »Verzeih, wenn ich zu grob war, Dil Bahadur. Möglicherweise war ich in einem früheren Leben ein grausamer Krieger«, sagte Tensing entschuldigend, als er seinen Schüler zum fünften Mal zu Boden geschleudert hatte.
    »Möglicherweise war ich in einem meiner früheren Leben eine zerbrechliche Jungfrau.« Dil Bahadur lag japsend auf dem Bauch.
    »Vielleicht solltest du besser nicht so viel über deine Bewegungen nachdenken. Nimm dir ein Beispiel am Bergtiger, nur Instinkt und Entschlossenheit …«
    »Vielleicht werde ich niemals so stark wie mein ehrwürdiger Meister.« Der Prinz rappelte sich etwas mühsam wieder hoch.
    »Der Sturm entwurzelt die kräftige Eiche, aber nicht die Binse, da diese sich biegt. Du solltest nicht an meine Kraft denken, sondern an meine Schwächen.«
    »Vielleicht hat mein Meister keine Schwächen.« Dil Bahadur funkelte ihn an und ging in Verteidigungsstellung.
    »Meine Kraft ist auch meine Schwäche, Dil Bahadur. Du solltest sie gegen mich wenden.«
    Fast im gleichen Augenblick flog ein Doppelzentner geballte Kraft auf den Prinzen zu. Aber diesmal sprang der Prinz diesem Muskelpaket mit der Grazie eines Balletttänzers entgegen. Im nächsten Moment wären die beiden in der Luft zusammengeprallt, da wich der Prinz Tensing mit einer leichten Drehung nach links aus, der Lama fiel zu Boden und rollte sich geschickt über Schulter und Hüfte ab. Mit einem perfekten Überschlag war er sofort wieder auf den Füßen und griff erneut an. Dil Bahadur erwartete ihn bereits. Trotz seiner Körperfülle sprang der Lama wie eine Katze im hohen Bogen durch die Luft, aber als sein Bein zu einem wuchtigen Tritt vorschnellte, traf er ins Leere. Im Bruchteil einer Sekunde war Dil Bahadur hinter ihm und versetzte ihm einen kurzen Schlag in den Nacken. Das war einer dieser Kunstgriffe des Tao-Shu, mit dem man jemanden lähmen oder sogar töten konnte, aber der Krafteinsatz war gut dosiert und streckte Tensing nur nieder, ohne ihn zu verletzen.
    »Womöglich war Dil Bahadur früher eine ziemlich kriegerische Jungfrau«, sagte Tensing sehr zufrieden, als er wieder auf die Beine gekommen war, und grüßte seinen Schüler mit einer tiefen Verbeugung.
    »Vielleicht hat mein ehrwürdiger Meister die Tugenden der Binse vergessen.« Dil Bahadur lächelte und verneigte sich ebenfalls.
    Da glitt plötzlich ein Schatten über den Boden, und beide schauten auf: Über ihren Köpfen kreiste derselbe weiße Vogel, den sie Stunden zuvor schon einmal gesehen hatten.
    »Fällt dir etwas an diesem Adler auf?«, fragte der Lama.
    »Vielleicht sehe ich schlecht, Meister, aber ich kann seine Aura nicht erkennen.«
    »Ich auch nicht …«
    »Was hat das zu bedeuten?«
    »Sag du es mir, Dil Bahadur.«
    »Wenn wir sie nicht sehen können, dann hat er vielleicht keine, Meister.«
    »Eine überaus weise Schlussfolgerung«, spöttelte der Lama.
    »Aber wie kann das sein, dass er keine Aura hat?«
    »Möglicherweise ist er eine geistige Projektion.«
    »Wir könnten versuchen, uns mit dem Vogel zu verständigen«, schlug Dil Bahadur vor.
    Die beiden schlossen die Augen und öffneten Geist und Herz für die Energie des mächtigen Adlers, der über ihren Köpfen seine Kreise zog. Einige Minuten verharrten sie reglos. Der Vogel war so nah, dass sie ein leichtes Erbeben der Haut spüren konnten.
    »Sagt er Euch etwas, Meister?«
    »Ich nehme nur Furcht und Ratlosigkeit wahr. Ich kann seine Botschaft nicht entschlüsseln, und du?«
    »Ich auch nicht.«
    »So etwas habe ich noch nie erlebt, Dil Bahadur. Ich weiß nicht, was es zu bedeuten hat, aber es muss einen Grund dafür geben, dass der Adler uns sucht.« Tensing blickte gedankenverloren in den Himmel.

ELFTES KAPITEL
Ein Jaguar als Totemtier
    Tunkhala war in heller Aufregung. Die Polizei befragte die halbe Einwohnerschaft, Trupps von Soldaten brachen ins Landesinnere auf, manche in Jeeps, andere zu Pferd, weil die meisten der Bergpfade für Fahrzeuge zu steil waren. Vor den Buddhastatuen scharten sich Mönche und brachten Blumen, Reis und Weihrauch als Opfergaben dar. In den Klöstern wurden die Langhörner geblasen, und unzählige Gebetsfahnen flatterten im Wind. Erstmals seit seiner Einführung sendete das Fernsehen einen ganzen Tag ohne Unterbrechung, wiederholte unablässig dieselben Nachrichten und blendete Fotografien von den vermissten Mädchen ein. In die Häuser der Entführungsopfer hätte keine

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