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Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Titel: Die Abenteuer von Aguila und Jaguar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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Sache. Tut mir leid, Meister.« Der Prinz verneigte sich tief.
    »Der Elefantenführer muss fünf Tugenden besitzen, Dil Bahadur: Er muss kerngesund sein, achtsam, geduldig, ehrlich und weise«, sagte der Lama lächelnd.
    »Ich habe die fünf Tugenden vergessen. Von kerngesund kann gerade keine Rede sein, weil ich nicht auf meine Schritte geachtet habe. Ich war unachtsam, weil ich es eilig hatte, ich war ungeduldig. Als ich abgestritten habe, dass ich hinke, war ich nicht ehrlich. Alles in allem bin ich weit von der Weisheit entfernt, Meister.«
    Die beiden lachten. Der Lama öffnete eine Holzkiste und holte einen Porzellantiegel mit einer grünlichen Salbe heraus, die er sorgfältig auf dem Bein des Prinzen verstrich.
    »Meister, ich glaube, Ihr habt die Erleuchtung bereits erlangt und Euch nur für das irdische Dasein entschieden, um mich zu unterrichten.« Als Antwort bekam Dil Bahadur nur einen freundschaftlichen Stups mit dem Porzellantiegel auf den Kopf.
    Nach der kurzen Dankzeremonie, die jeder ihrer Mahlzeiten vorausging, setzten sie sich mit ihren Schalen voller Tsampa und ihrem Tee im Lotossitz an den Rand des Felsplateaus. Bedächtig kauend ließen sie den Blick auf dem Bergpanorama ruhen, und wie immer schwiegen sie während des Essens. Vor ihnen reihten sich, so weit das Auge reichte, schneebedeckte Bergketten. Der Himmel war jetzt von einem tiefen Kobaltblau.
    »Heute Nacht wird es kalt«, sagte der Prinz, als das Essen beendet war.
    »Dieser Morgen ist wunderbar«, entgegnete der Meister.
    »Ja, ich weiß: hier und jetzt. Erfreue dich an der Schönheit des Augenblicks, anstatt an das kommende Gewitter zu denken …«, zitierte der Schüler mit einem leicht spöttischen Unterton in der Stimme.
    »Sehr gut, Dil Bahadur.«
    »Vielleicht muss ich ja gar nicht mehr so viel lernen«, sagte der Prinz und plusterte sich ein bisschen auf.
    »Fast gar nichts mehr, bloß ein wenig Bescheidenheit.«
    In diesem Moment beschrieb ein Vogel von mächtiger Spannweite einige große Kreise am Himmel über ihnen und war dann plötzlich wieder verschwunden.
    »Was war das?« Der Lama war aufgestanden.
    »Sah aus wie ein weißer Adler.«
    »Den habe ich hier noch nie gesehen.«
    »Ihr beobachtet seit vielen Jahren die Natur. Möglicherweise kennt Ihr alle Tiere, die in dieser Gegend leben.«
    »Es wäre unverzeihlicher Hochmut, wollte ich behaupten, sie alle zu kennen, aber einen weißen Adler habe ich hier tatsächlich noch nie gesehen.«
    »Ich sollte mit meinen Übungen beginnen, Meister«, sagte der Prinz, hob das Essgeschirr auf und verschwand in der Höhle.
    ~
    Etwas abseits vom Höhleneingang, in einem von Gebüsch befreiten Rund, übten sich Tensing und Dil Bahadur im Tao-Shu, dieser Mischung unterschiedlicher Kampftechniken, die von den Mönchen der entlegenen Klosterburg Chenthan Dzong entwickelt worden war. Die Überlebenden des Erdbebens, durch das das Kloster zerstört worden war, hatten sich in Asien in alle Winde zerstreut. Um ihre Kunst weiterzugeben, hatte jeder von ihnen nur einen einzigen Schüler gewählt, der sich durch körperliches Geschick und moralische Unbestechlichkeit auszeichnete. So ging ihr Wissen auf die nächste Generation über. Insgesamt gab es nie mehr als zwölf ausgebildete Tao-Shu-Kämpfer auf einmal. Tensing war einer von ihnen, und der Schüler, der irgendwann an seine Stelle treten sollte, war Dil Bahadur.
    In den Sommermonaten war der steinige Untergrund tückisch, denn morgens war er von Raureif überzogen und glitschig. Dil Bahadur fand das Training im Herbst und Winter angenehmer, wenn der Schnee die Stürze abfederte. Außerdem mochte er die Winterluft. Die Kälte machte ihm nichts aus, während der harten Ausbildung durch seinen Meister hatte er sich an sie ebenso gewöhnt wie daran, meistens barfuß zu gehen, wenig zu essen und Stunde um Stunde in regloser Meditation dazusitzen. An diesem Mittag schien die Sonne, kein Lüftchen sorgte für Abkühlung, Dil Bahadur tat das aufgeschlagene Bein weh, und bei jedem schlecht gesprungenen Überschlag knallte er auf die Steine, aber er bat nicht um eine Pause. Sein Meister hatte nie gehört, dass er klagte.
    Dil Bahadur und Tensing bildeten ein ziemlich ungleiches Paar: Hier der Prinz, mittelgroß und schlank, dort dieser Lama aus dem Osten Tibets, wo die meisten Leute außergewöhnlich hoch gewachsen sind. Der Lama maß über zwei Meter und hatte zudem sein ganzes Leben dem geistigen und körperlichen Training gewidmet. Der Prinz

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