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Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Titel: Die Abenteuer von Aguila und Jaguar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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und nimmer ohne Hilfe mit der Skorpionsekte aufnehmen. Aber er hatte seinen eigenen Kopf, und die umständliche Art, mit der sich die Leute im Verbotenen Reich ausdrückten und Entscheidungen fällten, tötete ihm den letzten Nerv, deshalb fürchtete sie, dass er nicht um Unterstützung bitten würde.
    Als sie sah, wie etliche Männer mit dem Aufstieg begannen, blieb ihr keine Wahl mehr. Von oben hatte der Graben viel weniger tief gewirkt, als er tatsächlich war, das merkte sie, kaum hatte sie mit dem Abstieg begonnen. Sie war nicht geübt im Klettern und hatte Höhenangst, aber am Amazonas war sie mit denIndianern eine Steilwand hinter einem Wasserfall hinaufgekraxelt, und der Gedanke daran machte ihr Mut. Sicher, damals hatte Alex ihr geholfen, und hier war sie ganz allein.
    Wie eine Fliege an den Felsen klebend, war sie erst zwei oder drei Meter abgestiegen, als eine Wurzel unter ihrem Griff nachgab, während sie mit dem linken Fuß weiter unten nach einem Tritt suchte. Sie verlor das Gleichgewicht, tastete verzweifelt nach einem Halt und griff zwischen den Felsen nur in Schnee. Sie rutschte weg und immer weiter in die Tiefe. Ihr Atem stockte, für Sekunden war sie überzeugt, sie würde sich dort unten das Genick brechen, aber sie landete auf einigen dichten Büschen, die ihren Sturz abfederten. Noch benommen wollte sie sich bewegen, und ein stechender Schmerz ließ sie aufschreien, sie sah Blut an ihren Händen, und ihr Gesicht brannte. Mit schreckgeweiteten Augen starrte sie auf ihren linken Arm, der in einem unnatürlichen Winkel an ihrem Körper hing. Sie hatte sich die Schulter ausgekugelt.
    Für einen Moment blieb sie reglos liegen und spürte gar nichts mehr, war wie betäubt, aber dann kam der Schmerz mit solcher Wucht zurück, dass ihr speiübel wurde. Bei der geringsten Bewegung wurde ihr schwarz vor Augen. Mit all ihren Sinnen kämpfte sie gegen die Ohnmacht an, es war klar: Sie durfte um keinen Preis bewusstlos werden.
    Endlich gelang es ihr, sich etwas zu beruhigen, sie konnte den Blick heben und sah rundherum nur schroffe Felsen, aber weit oben wölbte sich friedlich ein blankgeputzter Himmel, so blau, als wäre er angemalt. In Gedanken rief sie ihr Totemtier, verscheuchte mühsam alles andere aus ihrem Kopf und schaffte es irgendwann, sich als der mächtige Adler aus diesem Felsengrab zu befreien und die Berge unter sich zu lassen. Der Wind griff unter ihre weiten Schwingen, und lautlos schraubte sie sich in die Höhe, sah die schneebedeckten Gipfel und tief unten die üppig grünen Täler dieses schönen Landes.
    In den folgenden Stunden, wenn die Hoffnungslosigkeit übermächtig wurde, suchte Nadia in Gedanken bei dem Adler Zuflucht. Immer war ihr der große Vogel ein Trost.
    Den verletzten Arm mit der rechten Hand stützend, konnte sie irgendwann ein Stück vorwärts robben und rollte sich unter dasGebüsch. Es war gerade noch rechtzeitig, denn die Blauen Krieger hatten die Stelle erreicht, wo sie vorher gesessen hatte, und suchten jetzt die ganze Bergkuppe nach ihr ab. Einer machte Anstalten, in den Graben abzusteigen, gab aber bald auf, denn die steile Wand konnte das Mädchen, hinter dem er her war, ja doch nicht hinuntergeklettert sein.
    Unter den Büschen verborgen, hörte Nadia, wie sich die Skorpionkrieger etwas in einer Sprache zuriefen, die sie gar nicht erst zu verstehen versuchte. Dann waren sie endlich wieder weg, Totenstille breitete sich aus, und Nadia fühlte sich unendlich allein.
    Trotz ihrer Daunenjacke war sie durchgefroren. Die Kälte dämpfte den Schmerz in ihrem verletzten Arm und ließ sie sehr müde werden. Sie hatte seit der vergangenen Nacht nichts mehr gegessen, spürte jedoch keinen Hunger, nur einen entsetzlichen Durst. Sie kratzte schmutziges Eis von den zugefrorenen Pfützen zwischen den Felsen und sog gierig daran, aber beim Auftauen hinterließ es nur einen Geschmack nach Lehm in ihrem Mund. Es wurde dunkel, und sie dachte noch, dass es bestimmt Frost geben würde. Dann fielen ihr die Augen zu. Eine Weile kämpfte sie weiter gegen die Müdigkeit, aber dann gab sie auf und hoffte, dass die Zeit schneller vergehen würde, wenn sie schlief.
    »Vielleicht sehe ich nie wieder die Sonne aufgehen«, sagte sie leise zu sich selbst und schlief ein.
    ~
    Tensing und Dil Bahadur gingen von ihrem Kampfplatz zurück in die Einsiedelei. Eigentlich war es jetzt Zeit für die Lektionen, aber keiner der beiden machte Anstalten, die Pergamente aus der Holztruhe zu holen, denn in

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