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Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Titel: Die Abenteuer von Aguila und Jaguar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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Gedanken waren sie bei etwas anderem. Sie entfachten ein kleines Feuer und wärmten ihren Tee auf. Ehe sie mit der Meditation begannen, wiederholten sie für etwa eine Viertelstunde im Singsang das Om mani padme hum, und dann beteten sie um geistige Klarheit, damit sie das seltsame Zeichen deuten konnten, das sie am Himmel gesehen hatten. Sie fielen in Trance, und ihr Geist löste sich aus dem Körper und ging auf die Reise.
    Noch fehlten etwa drei Stunden bis zum Sonnenuntergang, als der Meister und sein Schüler die Augen wieder aufschlugen. Wie wenn man aus einem tiefen Traum erwacht, brauchten die beiden eine Weile, bis sie sich in der Wirklichkeit ihrer Einsiedelei wieder zurechtfanden, deshalb blieben sie noch einen Moment reglos sitzen. In Trance hatten sie beide sehr ähnliche Dinge gesehen und mussten jetzt nicht viele Worte darum machen.
    »Ich nehme an, wir kommen der Person zu Hilfe, die den weißen Adler geschickt hat, ehrwürdiger Meister.« Der Prinz war sicher, dass Tensing dieselbe Entscheidung getroffen hatte, denn das war der Weg, den Buddha ihnen wies: der Weg des Mitleids.
    »Vielleicht«, antwortete der Lama aus reiner Gewohnheit, denn er war nicht minder entschlossen als sein Schüler.
    »Wie können wir sie finden?«
    »Möglicherweise führt uns der Adler.«
    Sie hüllten sich in ihre wollenen Umhänge, warfen sich die Yakfelle über die Schulter, zogen ihre ledernen Stiefel an, die sie nur für weite Wanderungen und im tiefsten Winter trugen, dann griffen sie sich die langen Wanderstäbe und eine Öllampe. Um die Hüfte band sich jeder einen Beutel mit Mehl und Butter für die Tsampa. In einem zweiten Beutel nahm Tensing ein Fläschchen Reisschnaps, ein kleines Holzkästchen mit seinen Akupunkturnadeln und eine Auswahl seiner Heilkräuter mit. Dil Bahadur hängte sich einen seiner kürzeren Bögen und einen Köcher mit Pfeilen über die Schulter. Wortlos brachen sie in die Richtung auf, in die der große weiße Vogel verschwunden war.
    ~
    Nadia hatte den Kampf aufgegeben. Sie spürte schon keinen Schmerz mehr, keine Kälte, weder Hunger noch Durst. Im Halbschlaf dämmerte sie vor sich hin und träumte von ihrem Adler. Wenn sie für Augenblicke zu sich kam, wusste sie genau, wo sie sich befand und dass alles aussichtslos war, aber als die Nacht anbrach, empfand sie keine Furcht mehr.
    Die Stunden zuvor waren angsterfüllt gewesen. Als die Blauen Krieger verschwunden und nicht mehr zu hören waren, hatte sieversucht, auf die Beine zu kommen, aber schnell begriffen, dass sie die steile Felswand ohne Hilfe und mit einem unbrauchbaren Arm nie und nimmer hinaufklettern konnte. Sie hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht, die Jacke auszuziehen und den Arm zu untersuchen, denn schon die kleinste Bewegung war eine Quälerei, und dass ihre Hand geschwollen war, sah sie auch so. Manchmal durchzuckte sie der Schmerz, dass sie hätte schreien mögen, aber sie wollte nicht darauf achten, denn das hätte es nur schlimmer gemacht; sie wollte an etwas anderes denken.
    Ehe es Abend wurde, hatte die Verzweiflung sie immer wieder angefallen. Weinend hatte sie an ihren Vater gedacht, den sie nie mehr wiedersehen würde, hatte in Gedanken Jaguar um Hilfe gerufen. Wo war er? Hatte Borobá ihn gefunden? Warum kam er nicht? Ein paar Mal hatte sie gerufen, hatte geschrien, bis ihr die Stimme versagte, es war ihr gleichgültig, ob die Skorpionkrieger sie hörten, lieber wollte sie ihnen ausgeliefert sein, als hier ganz allein zu bleiben, aber niemand war gekommen. Einmal hatte sie Schritte gehört, und vor Erwartung hatte ihr das Herz bis zum Hals geschlagen, aber dann waren es bloß ein paar wilde Bergziegen gewesen. Sie hatte versucht, sie anzulocken, aber sie waren nicht näher gekommen.
    Ihr ganzes Leben hatte sie im feuchtheißen Klima des Amazonasgebiets verbracht. Sie kannte die Kälte nicht. In Tunkhala, wo die Leute in Kleidern aus Baumwolle und Seide herumliefen, hatte sie immer eine langärmlige Strickjacke getragen. Sie hatte nie zuvor Schnee gesehen und nicht gewusst, was Eis ist, ehe sie es auf einer Kunsteisbahn in New York zum ersten Mal sah. Jetzt zitterte sie am ganzen Körper. Hier unten lag sie windgeschützt zwischen den Büschen, aber die Kälte war dennoch unerträglich. Sie machte sich ganz klein und verharrte so Stunde um Stunde, bis ihr Körper völlig taub war und sie nichts mehr spürte. Als es dunkel zu werden begann, merkte sie ganz deutlich, wie der Tod nach ihr griff. Sie erkannte

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