Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Titel: Die Abenteuer von Aguila und Jaguar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
Vom Netzwerk:
den Kopf und teilte seinen Proviant mit Borobá. Dann saß er reglos da und hoffte, er könne mit dem Herzen hören und so erfahren, wo Nadia war, aber keine innere Stimme kam ihm zu Hilfe.
    ›Ich muss ein bisschen schlafen, ich bin völlig am Ende‹, sagte er sich, konnte jedoch kein Auge zutun.
    ~
    Gegen Mitternacht erreichten Tensing und Dil Bahadur den Graben, in dem Nadia lag. Stundenlang waren sie dem weißen Adler gefolgt. Der mächtige Vogel war lautlos so dicht über ihren Köpfen geflogen, dass sie ihn noch im Dunkeln hatten wahrnehmen können. Keiner der beiden war sich wirklich sicher, ihn zu sehen, aber sie spürten ihn so deutlich, dass sie sich nicht absprechen mussten, um ihren Weg zu finden. Wenn sie fehlgingen oder stehenblieben, begann der Adler über ihnen zu kreisen und zeigte ihnen, wohin sie sich wenden sollten. So führte er sie bis zu dem Graben, und dann war er plötzlich verschwunden.
    Ein furchterregendes Brüllen ließ dem Lama und seinem Schüler das Blut in den Adern gefrieren. Es waren nur noch wenige Schritte bis zu der Stelle, wo Nadia abgerutscht war, aber sie konnten nicht weiter, denn ein Tier, das sie noch nie gesehen hatten, versperrte ihnen den Weg: eine große Raubkatze, schwarz wie die Nacht. Das Nackenfell gesträubt, die Krallen ausgefahren, setzte sie zum Sprung an. Ihre gebleckten Reißzähne und gelben Pupillen blitzten im flackernden Schein der Öllampe.
    Im ersten Impuls wollten Tensing und Dil Bahadur sich verteidigen und waren schon drauf und dran, einen der Tao-Shu-Griffe anzuwenden, auf die sie mehr vertrauten als auf Dil Bahadurs Pfeile. Dass sie reglos verharrten, war ein reiner Willensakt. Gleichmäßig atmend kämpften sie gegen die Panik, damit das Tier ihre Angst nicht witterte, und richteten all ihr Denken darauf, offen und achtsam zu sein wie damals bei dem weißen Tiger und den Yetis. Sie wussten, für gewöhnlich waren einem die eigenen Gedanken der ärgste Feind oder auch die größte Hilfe.
    Einen endlosen Augenblick lang standen sich die Männer und die Raubkatze gegenüber, bis Tensings heitere Stimme ganz leise das heilige Mantra sprach. Da flackerte das Licht der Öllampe auf, als wollte es verlöschen, und unter den Blicken des Lamas und seines Schülers nahm an Stelle der Raubkatze ein sehrmerkwürdig aussehender Junge Gestalt an. Er war unglaublich bleich und höchst sonderbar angezogen.
    Alex wiederum hatte ein schwaches Licht gesehen, das er zunächst für ein Hirngespinst hielt, aber dann war es immer deutlicher geworden. Dahinter erkannte er die Umrisse zweier Gestalten, die auf ihn zukamen. Skorpionkrieger, dachte er und sprang kampfbereit auf die Füße. Er spürte, dass ihm der Geist des schwarzen Jaguars zu Hilfe kam, und als er den Mund aufmachte, zeriss ein markerschütterndes Brüllen die Stille der Nacht. Erst als die beiden Unbekannten nur noch wenige Schritte entfernt waren, erkannte Alex, dass er sich getäuscht hatte.
    Da standen sie jetzt und starrten einander mit großen Augen an: hier zwei in Yakfelle gehüllte buddhistische Mönche, dort ein amerikanischer Junge in Jeans und Bergschuhen mit einem Äffchen auf der Schulter. Als die drei aus ihrer Verblüffung wieder zu sich kamen, falteten sie die Hände vorm Gesicht und verneigten sich zum traditionellen Gruß des Verbotenen Reichs.
    »Tampo kachi«, sagte Tensing.
    »Hi«, sagte Alex.
    Borobá kreischte auf und hielt sich die Augen zu wie immer, wenn er erschrocken oder verdattert war.
    Diese Begegnung war so eigenartig, dass alle drei grinsen mussten. Alex kramte verzweifelt in seinem Gedächtnis nach irgendeinem Wort der Landessprache, aber es fiel ihm kein einziges ein. Dennoch hatte er den Eindruck, dass seine Gedanken für diese Männer ein offenes Buch waren. Obwohl er keinen Laut von ihnen hörte, formten sich Bilder in seinem Kopf, und er begriff, dass sie aus dem gleichen Grund hier waren wie er.
    Tensing und Dil Bahadur erfuhren aus den Gedanken des Fremden, dass er nach einem Mädchen suchte, das Aguila hieß. Es musste dieselbe Person sein, die ihnen den weißen Adler geschickt hatte. Sie fragten sich nicht, warum sich das Mädchen in einen Vogel verwandeln konnte, so wenig wie es ihnen merkwürdig vorkam, dass der Junge als große schwarze Raubkatze vor ihnen aufgetaucht war. Etwas Unmögliches gab es für sie nicht. Wenn sie in Trance weite Reisen unternahmen, schlüpften sie zuweilen selbst in die Gestalt eines Tieres oder eines Geschöpfes aus einer

Weitere Kostenlose Bücher