Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Titel: Die Abenteuer von Aguila und Jaguar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
Vom Netzwerk:
anderenWelt. In Alexanders Gedanken lasen sie auch seine Furcht vor der Skorpionsekte, von der Tensing auf seinen Wanderungen durch Nordindien und Nepal gehört hatte.
    Der Gedankenfluss der drei wurde jäh von einem Schrei am Himmel unterbrochen. Sie schauten auf, und dort, über ihren Köpfen, war wieder der große Vogel. Er beschrieb einen engen Bogen und verschwand dann im Sturzflug in einem dunklen Graben, an dessen Rand sie standen.
    »Aguila! Nadia!«, rief Alex, erst außer sich vor Freude und gleich darauf mit einer schrecklichen Vorahnung.
    Er starrte in den Abgrund: Hier im Dunkeln abzusteigen war glatter Wahnsinn. Aber er musste es versuchen: Nadia hatte nicht auf sein Rufen und Borobás Gekreische reagiert, also musste ihr etwas Schlimmes zugestoßen sein. Zweifellos war sie am Leben, sie hatten ja gesehen, dass sie den weißen Adler rufen konnte, aber womöglich war sie schwer verletzt. Sie durften keine Zeit verlieren.
    »Ich gehe da runter«, sagte Alex auf Englisch.
    Dafür brauchten Tensing und Dil Bahadur keine Übersetzung, und sie machten sich bereit, ihm zu helfen.
    Alex war heilfroh um die Ausrüstung, die Taschenlampe und das Klettertraining mit seinem Vater, von dem er gelernt hatte, wie man sich abseilt. Er zog den Sitzgurt um, setzte einen Klemmhaken in eine Felsspalte, vergewisserte sich, dass er sicher saß, hängte das Seil mit dem Abseilachter ein und ließ sich unter den staunenden Blicken von Tensing und Dil Bahadur, die so etwas zum ersten Mal sahen, obwohl sie ihr ganzes Leben in den Bergen verbracht hatten, wie eine Spinne am Faden die Felswand hinab.

ZWÖLFTES KAPITEL
Gedanken als Medizin
    Das Erste, was Nadia wahrnahm, als sie wieder zu sich kam, war der muffige Geruch des schweren Yakfells, das sie einhüllte. Sie hob die Lider ein wenig und konnte nichts sehen. Sie wollte sich bewegen, aber es ging nicht; sie versuchte zu sprechen, brachte jedoch keinen Ton heraus. Plötzlich durchfuhr sie ein stechender Schmerz, der in der Schulter begann und sich rasend schnell in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Wie in ein bodenloses Nichts glitt sie wieder in die Dunkelheit hinein. Sie wurde ruhig, aber wenn ihr Bewusstsein für kurze Momente zurückkehrte, durchbohrte sie der Schmerz wie Pfeilspitzen. Halb ohnmächtig stöhnte sie auf.
    Als sie schließlich langsam zur Besinnung kam, nahm sie alles wie durch einen weißlichen Watteschleier gedämpft wahr. Verschwommen sah sie Jaguars Gesicht über sich und dachte, sie sei tot, aber dann sagte er ihren Namen. Es gelang ihr, das Bild scharf zu stellen, und als sie den brennenden Schmerz in ihrer Schulter spürte, wusste sie, sie war am Leben.
    »Aguila, ich bin’s …«, sagte Alex mit belegter Stimme.
    »Wo sind wir?«, flüsterte sie.
    Ein lächelndes, bronzefarbenes Gesicht mit Mandelaugen tauchte in ihrem Blickfeld auf.
    »Tampo kachi, tapferes Mädchen«, sagte das Gesicht. Dann hielt ihr der Fremde eine Holzschale an die Lippen und ermunterte sie zu trinken.
    Mühsam nahm Nadia einige Schlucke von der lauwarmen, bitteren Flüssigkeit, die schwer in ihrem leeren Magen landete. Ihr wurde schlecht, aber eine kräftige Hand drückte gegen ihren Brustkorb, und die Übelkeit verschwand sofort wieder. Sie trank noch etwas mehr, und schnell begannen Jaguar und der Fremde zu verschwimmen, und sie fiel in tiefen, ruhigen Schlaf.
    ~
    In Windeseile hatte sich Alex in den Graben abgeseilt, wo er im Lichtkegel der Taschenlampe Nadia zusammengerollt zwischen den Büschen fand, eiskalt und steif, wie tot. Er schrie auf, stürzte zu ihr: Gott sei Dank, sie atmete noch. Er wollte sie unter den Büschen herausziehen, da sah er den merkwürdig verdrehten Arm, bestimmt war der gebrochen, aber damit konnte er sich jetzt nicht aufhalten. Erst musste er sie aus diesem Loch herausschaffen, das würde schwer genug sein, solange sie ohnmächtig war.
    Mit seinem Gürtel band er Nadia den verletzten Arm eng gegen die Brust. Dann hob er sie hoch, setzte sie vor sich auf den Gurt und gab den beiden oben durch einen Ruck am Seil zu verstehen, dass sie ihn vorsichtig in die Höhe ziehen sollten. Mit einem Arm hielt er Nadia eng an sich gepresst, bis sie endlich den Rand des Grabens erreicht hatten.
    Tensing untersuchte Nadia und entschied, dass sie zuallererst etwas gegen die Unterkühlung unternehmen mussten. Um den Arm würde er sich später kümmern. Er wollte ihr etwas Reisschnaps einflößen, aber sie war ohnmächtig und schluckte ihn nicht. Eine Weile

Weitere Kostenlose Bücher