Die Abenteuer von Aguila und Jaguar
durchdrungen von einer strahlenden Kraft. Die Bäume formten nicht länger eine dichte grüne Masse, jeder war etwas Einzelnes, besaß einen Namen, eine Erinnerung. Die höchsten, aus deren Samen neues Leben gesprossen war, erzählten ihre Geschichte. Alte Urwaldriesen erklärten ihren Wunsch, bald zu sterben und die Erde zu nähren, junge Schößlinge streckten ihre zarten Triebe und klammerten sich an das Leben. Ohne Unterlass wisperte die Natur in einem sanften Gespräch aller mit allen.
Unzählige Tiere umringten Nadia und Alex, viele hatten sie nie zuvor gesehen: Da waren seltsame Okapis mit langen Hälsen wie kleine Giraffen, da waren Moschushirsche und Zibetkatzen, Mungos, Flughörnchen, goldgelbe Wildkatzen und Antilopen mit einer Zeichnung wie Zebras, geschuppte Ameisenbären und eine Vielzahl von Affen, die im magischen Licht dieser Nacht hoch oben in den Bäumen wie Kinder miteinander tuschelten. Leoparden, Krokodile, Nashörner und andere gefährliche Tiere zogen einträchtig an ihnen vorbei. Der Wald hallte wider vom Gesang der Vögel, die mit ihrem strahlenden Gefieder die Nacht belebten. Tausende Insekten gaukelten in der Brise: schillernde Schmetterlinge, leuchtende Käfer, lärmende Grillen, zarte Glühwürmchen. Am Boden wimmelte es von Reptilien: von Schlangen, Schildkröten und Riesenechsen, den Nachfahren der Dinosaurier, die aus Augen mit drei Lidern zu Alex und Nadia hinauflinsten.
Sie waren mitten im Wald der Geister, umgeben von Tausenden und Abertausenden von Pflanzen- und Tierseelen. Erneut war es, als öffnete sich etwas in ihrem Innern, und Alex und Nadia konnten die Verbindungen wahrnehmen, die zwischen allen Geschöpfen bestanden, alles Sein schien durch Ströme von Energie miteinander verknüpft zu einem kunstvollen Netz, das zart war wie Seide und doch unverbrüchlich. Sie verstanden, dass nichts für sich allein besteht, dass alles, sei es ein Gedanke oder ein Wirbelsturm, Einfluss nimmt auf alles andere. Sie spürten, wie die Erde atmete und pulste, ein großes Lebewesen, das in seinem Schoß alle Pflanzen und Tiere wiegte, die Berge, die Flüsse, den Wind über den Ebenen, die Lava der Vulkane, den ewigen Schnee auf den höchsten Gipfeln. Und dieser mütterliche Planet ist Teil eines größeren lebendigen Zusammenhangs, ist verbunden mit jedem Himmelskörper am unendlichen Firmament.
Wie auf einem wundersamen Gemälde, auf dem alles zugleich geschieht, sahen Alex und Nadia das unausweichliche Kommen und Gehen von Leben und Tod, sahen Wandel und Wiederkehr ohne Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, jetzt, seit jeher und für immer.
Und schließlich, auf der letzten Etappe dieser phantastischen Reise, erkannten sie, dass jede der ungezählten Seelen und alles,was es gibt im Universum, Teil eines einzigen Geistes ist, wie Wassertropfen, die Teil eines einzigen Ozeans sind. Ein Geist atmet in allem Sein. Es gibt keine Trennung zwischen den Lebewesen, keine Grenze zwischen Leben und Tod.
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Nicht einen Augenblick empfanden Nadia und Alexander Furcht auf dieser unglaublichen Reise. War ihnen zunächst, als schwebten sie in tiefer Ruhe durch die wattige Welt eines Traums, so wich diese Ruhe auf dem Weg durch die neue Weite der Wahrnehmung und Phantasie einer wachsenden Begeisterung, einem grenzenlosen Glück, einem Gefühl großer Stärke und Kraft.
Der Mond zog seine Bahn am Himmel, und der Wald verschwand. Für eine Weile flirrte das Licht der Geister noch um sie her, während das Summen verstummte und die Kühle nachließ. Alex und Nadia rieben sich die Augen und sahen sich um: Da waren die Gräber, da war Borobá, um Nadias Hüfte geringelt. Sie wollten den Zauber noch ein wenig festhalten, saßen reglos und sprachen nicht. Schließlich sahen sie sich verwirrt an, als zweifelten sie an dem, was gerade geschehen war, aber da trat Königin Nana-Asante aus dem Dunkel, und sie wussten, es war nicht nur ein Traum gewesen.
Die Königin strahlte in einer Aureole aus Licht. Nichts erinnerte mehr an die bedauernswerte, ausgemergelte Greisin, die in Lumpen gehüllt zwischen Gräbern hauste. Was Alex und Nadia sahen, war eine machtvolle Erscheinung, eine Kämpferin, eine alte Göttin des Waldes. Nana-Asante war durch diese Jahre der Meditation und Einsamkeit bei den Toten weise geworden. Sie hatte ihr Herz von Hass und Gier befreit, nichts konnte sie verlocken, nichts beunruhigen, nichts ängstigen. Sie war mutig, denn sie klammerte sich nicht an das Leben, sie war stark, denn sie war
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