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Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Titel: Die Abenteuer von Aguila und Jaguar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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kein bisschen zu fürchten schien.
    ~
    Dort, weit vor ihnen, konnten sie allmählich das Ende des langen Felsgangs erkennen. Der grüne Schimmer wurde deutlicher, und schließlich traten sie in eine große Höhle, deren Schönheit ihnen den Atem nahm. Von irgendwoher drang ausreichend Licht und durchflutete den Raum, groß wie ein Kirchenschiff, in dem wundersame Felsformationen wie Statuen aufragten. Im Labyrinth hatten die Wände aus einem dunklen Stein bestanden, aber in dieser runden, beleuchteten Halle mit ihrem Kathedralengewölbe waren sie umgeben von Kristallen und Edelsteinen. Alex hatte von seinem gebirgsbegeisterten Vater manches über Steine und Edelsteine gelernt und konnte hier Opale, Topase, Achate, Quarzkristalle, Alabaster, Jade und Turmalin erkennen. Manche Steine funkelten wie geschliffene Diamanten, andere waren milchig, wieder andere schienen von innen heraus zu strahlen, waren grün, braun und rot geädert, als umschlössen sie Smaragde, Amethyste und Rubine. Durchsichtige Stalaktiten, von denen kalkiges Wasser tropfte, hingen wie Eiszapfen von der Decke. Es roch feucht und, Alex konnte es kaum glauben, nach Blumen. Dieser starke und durchdringende Geruch nach Vergänglichkeit nahm einem etwas den Atem, eine Mischung aus Parfüm und Grab. Dennoch war die Luft klirrend kalt wie im Winter, wenn frischer Schnee gefallen ist.
    Plötzlich bewegte sich etwas am anderen Ende der Grotte, und im gleichen Augenblick lösten sich die Umrisse eines sonderbaren Vogels, einer Art geflügelten Echse, von einem blauen Kristallfelsen. Das Tier spannte die Flügel, als wollte es losfliegen, und nun konnte Alex es genau erkennen: Es sah aus wie die Drachenzeichnungen in seinen Sagenbüchern, war aber nicht größer als ein ausgewachsener Pelikan und sehr hübsch. Die blutrünstigen Drachen aus den europäischen Legenden, die immer einen Schatz hütenoder irgendwelche Jungfrauen gefangen halten, waren ja wirklich widerwärtig. Dieser hier sah eher aus wie die Drachen, die er bei Festen im chinesischen Viertel von San Francisco gesehen hatte: die reine Lebensfreude. Aber man konnte ja nie wissen, deshalb klappte Alex sein Schweizer Messer auf, allerdings winkte Walimai beschwichtigend ab.
    Die Geisterfrau des Schamanen schwebte wie eine Libelle durch die Höhle und ließ sich rittlings zwischen den Flügeln des Tieres nieder. Borobá stieß einen entsetzten Schrei aus und fletschte die Zähne, aber Nadia hieß ihn still sein und starrte hingerissen den Drachen an. Als sie sich wieder etwas gefasst hatte, versuchte sie ihn in der Sprache der Vögel und der Reptile anzulocken, das Fabelwesen musterte die Besucher jedoch nur vom anderen Ende der Höhle aus mit seinen roten Knopfaugen und reagierte nicht auf Nadias Lockruf. Geschmeidig und mühelos erhob sich der Drache schließlich in die Lüfte und beschrieb mit Walimais Frau auf dem Rücken einen majestätischen Bogen unter dem Grottengewölbe, als wollte er bloß einmal vorführen, wie elegant er sich bewegen konnte und wie hübsch seine Schuppen funkelten. Dann kehrte er zu dem blauen Kristallfelsen zurück, faltete die Flügel zusammen und sah sie mit dem Gleichmut einer Katze an.
    Der Geist der Frau schwebte zu Walimai zurück und verharrte über seinem Kopf. Alex suchte fieberhaft nach Worten, mit denen er später würde beschreiben können, was er hier sah; er hätte Gott weiß was darum gegeben, die Kamera seiner Großmutter dabeizuhaben, um beweisen zu können, dass es all das wirklich gab und er nicht bloß im Sturm seiner Einbildungskraft Schiffbruch erlitten hatte.
    ~
    Etwas wehmütig verließen sie die verzauberte Höhle und den geflügelten Drachen, denn vielleicht würden sie ihn nie mehr wiedersehen. Alex versuchte noch immer, vernünftige Erklärungen für alles zu finden, während Nadia den Zauber hinnahm, ohne Fragen zu stellen. Aber durch ihre Abgeschiedenheit waren diese Tepuis bestimmt so etwas wie Relikte aus der Altsteinzeit, wo sichdie Pflanzen- und Tierwelt über Millionen von Jahren unverändert erhalten hatte. Vielleicht so ähnlich wie bei den Galapagosinseln, auf denen es doch auch Tierarten gab, die überall sonst schon durch Evolution verändert oder ausgestorben waren. Dieser Drache war wahrscheinlich nichts weiter als ein unbekannter Vogel. So ein Wesen tauchte doch in den unterschiedlichsten Volksmärchen und Sagen auf. In China etwa als Symbol für Glück, und in England, damit die Ritter wie der heilige Georg etwas hatten, woran

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