Die Abenteuer von Sherlock Holmes
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›Danke, Maggy‹, sagte ich, ›aber wenn es dir nichts ausmacht, möchte ich lieber die Gans, die ich gerade befühlt habe ‹
›Die andere ist gute drei Pfund schwerer‹, sagte sie, ›wir haben sie extra für dich gemästet ‹
›Mach dir nichts draus. Ich möchte die andere, und ich nehme sie gleich mit ‹
›Ganz wie du möchtest‹, sagte sie, ein wenig ärgerlich.
›Welche also willst du nun?‹
›Die weiße mit dem gestreiften Schwanz in der Mitte der Herde ‹
›Na gut. Schlachte sie und nimm sie mit ‹
Ich tat, wie sie sagte, Mr. Holmes, und schleppte das Tier den ganzen Weg nach Kilburn. Ich erzählte meinem Freund, was ich gemacht hatte - er ist einer, bei dem es einem leichtfällt, so etwas zu sagen. Er lachte, bis er keine Luft mehr bekam und dann nahmen wir ein Messer und schnitten die Gans auf. Ich kriegte weiche Knie, denn da war nicht die Spur von einem Stein und ich begriff, daß mir ein schrecklicher Irrtum passiert war. Ich ließ den Vogel dort, lief zum Haus meiner Schwester und gleich in den Hof. Kein einziger Vogel war mehr da.
›Wo sind die alle, Maggy?‹ schrie ich.
›Beim Händler ‹
›Bei welchem Händler?‹
›Bei Breckinridge am Covent Garden ‹
›War da noch eine mit gestreiftem Schwanz?‹ fragte ich. ›Genau solche wie die, die ich mir ausgesucht habe?‹
›Ja, es gab zwei mit gestreiftem Schwanz. Ich habe sie nie auseinanderhalten können ‹
Jetzt war alles klar und ich rannte, so schnell mich meine Füße trugen, zu diesem Breckinridge. Aber er hatte die ganze Partie auf einmal verkauft und wollte mir mit keinem Wort verraten, an wen. Sie
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haben ihn heute abend ja selbst gehört. So hat er mir immer geantwortet. Meine Schwester denkt, ich bin verrückt geworden.
Manchmal denke ich das selbst. Und jetzt - jetzt bin ich ein gebrandmarkter Dieb, der den Reichtum, um dessentwillen er seinen Charakter aufgegeben hat, nicht einmal berühren konnte. Gott helfe mir! Gott helfe mir!" Er brach in krampfhaftes Schluchzen aus und barg das Gesicht in den Händen. Danach blieb es lange Zeit still - die einzigen Geräusche waren Ryders schwerer Atem und das
regelmäßige Klopfen, das Sherlock Holmes mit seinen Fingerspitzen auf den Tisch erzeugte. Endlich erhob sich mein Freund und riß die Tür auf. "Raus!" sagte er.
"Was ist, Sir? Der Himmel vergelte es Ihnen!"
"Kein Wort mehr! Raus!"
Und es war auch kein weiteres Wort nötig. Ein Sturz zur Tür, ein Gepolter auf der Treppe, das Zuschlagen der Haustür und das harte Geräusch rennender Füße auf der Straße - das war alles.
"Schließlich, Watson", sagte Holmes, indem er nach seiner Tonpfeife griff, "bin ich nicht von der Polizei engagiert und hier deren Schlappen wettzumachen. Wäre Horner in Gefahr, wär's etwas anderes; aber dieser Bursche wird nicht gegen ihn auftreten und da muß die Anklage in sich zusammenfallen. Vermutlich verharmlose ich ein Verbrechen, aber es ist auch möglich, daß ich eine Seele rette.
Der wird nicht noch einmal auf den falschen Weg geraten. Er ist zu verschreckt. Steckt man ihn in den Käfig, so wird aus ihm ein Vogel hinter Gittern sein Leben lang. Außerdem haben wir gerade das Fest der Versöhnung gefeiert. Der Zufall hat uns zu einem einmaligen, seltsamen Problem verholfen und dessen Lösung trägt die Belohnung schon in sich. Wenn Sie jetzt die Güte hätten, Doktor, zu läuten, werden wir gleich mit einer neuen Untersuchung beginnen, deren Held auch ein Vogel ist."
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Das gefleckte Band
Wenn ich die mehr als siebzig Fälle überblicke, in denen ich während der letzten acht Jahre die Methoden meines Freundes Sherlock Holmes studieren konnte, finde ich viel Tragisches, einiges Komische und eine große Anzahl lediglich seltsamer Begebenheiten, aber nichts Alltägliches, denn da mein Freund eher aus Liebe zu seiner Kunst arbeitet als um Reichtum zu erlangen, lehnte er es ab, sich mit Untersuchungen zu befassen, die nicht etwas
Ungewöhnliches oder sogar Phantastisches an sich hatten. Bei all diesen verschiedenen Fällen erinnere ich mich an keinen, der so einzigartige Züge trug wie der, in den die bekannte Familie der Roylotts of Stoke Moran in Surrey verwickelt war. Besagte Ereignisse geschahen am Anfang meiner Bekanntschaft mit Sherlock Holmes, als wir Junggesellen waren und die Wohnung in der Baker Street teilten. Möglicherweise hätte ich sie schon früher mitgeteilt, aber damals wurde ein Geheimhaltungsversprechen gegeben, und davon bin
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