Die Abrechnung: Ein Neonazi steigt aus
haben. Ich drehte mich von ihm weg, hin zur Theke, um eine neue Runde zu bestellen. Frank Lutz war so erbost, daß er nach einem Stuhl griff, um ihn mir von hinten über den Schädel zu hauen. Mein jüngerer Bruder Jens ging dazwischen und drückte Frank Lutz weg. Ich hatte das alles gar nicht mitbekommen. Lutz schlug sofort auf meinen Bruder ein. Dessen Brille zerbrach, und er lag plötzlich mit gebrochenem Nasenbein am Boden. Ich wollte sofort auf Lutz losgehen, aber einige Gäste hielten mich fest. Andere hatten Lutz gepackt, zerrten ihn nach draußen und schmissen ihn einfach auf die Straße.
Bis zu diesem Tag war Frank Lutz ein guter Freund gewesen. Wir hatten fast zwanzig Jahre in der gleichen Straße gelebt und waren während der Schulzeit immer in einer Klasse gewesen. Anfangs war Lutz ein ordentlicher Jungpionier und sogar Vorsitzender des Gruppenrates gewesen. Seinen Mitschülern wurde er als Vorbild hingestellt, und er hatte auch genaue Berufsvorstellungen: Lutz wollte Offizier bei der Nationalen Volksarmee werden. Seine Eltern arbeiteten beim Ministerium für Staatssicherheit in der nahen Normannenstraße.
Nach der Schule verlor ich ihn zunächst aus den Augen. Ich dachte, er würde seinen ihm vorgezeichneten Weg gehen, und zunächst begann er eine Lehre in der Druckerei der Armee. Ich war überrascht, als ich vier Monate später erfuhr, daß Lutz im Gefängnis saß. Er war zu zehn Monaten verurteilt worden, weil er grundlos einen Taubstummen zusammengeschlagen hatte. Nachdem diese erste Haft hinter ihm lag, verbrachte er nur sechsundzwanzig Tage in Freiheit. Während dieser Tage trafen wir uns zufällig in einer Kneipe. Sein Kopf war inzwischen kahlgeschoren. Wir unterhielten uns über unsere Schulzeit, da kam ein Farbiger an unseren Tisch und fragte Lutz, ihm freundschaftlich auf die Schulter klopfend, ob hier noch ein Platz frei sei. Lutz griff, ohne etwas zu sagen, blitzschnell in seine Tasche, zog eine Rasierklinge hervor und zog sie dem Schwarzen zweimal durchs Gesicht. Das Blut schoß hervor. Lutz sprang auf und rannte weg. Ich folgte ihm, um nicht in diese Sache hineingezogen zu werden.
Kurze Zeit später saß Lutz erneut für ein Jahr im Gefängnis.
Nach der zweiten Haftentlassung versuchte Lutz, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Er brach jeden Kontakt zu den Skinheads ab. Er bekam eine Wohnung, die er zusammen mit seinen Eltern renovierte, und arbeitete als Drucker bei der Gewerkschaftszeitung »Tribüne«.
Eines Tages ging er in Begleitung eines Freundes in eine Diskothek. Plötzlich kam einer der Rausschmeißer und forderte die beiden auf, die Diskothek sofort wieder zu verlassen. Leute mit Springerstiefeln seien hier unerwünscht. Lutz und sein Kumpel weigerten sich, dieser Aufforderung nachzukommen, sie hatten nichts getan. Die Volkspolizei wurde verständigt, in der Diskothek seien Skinheads. Die beiden wurden hinausgeprügelt. Lutz verlor dabei ein paar Zähne, er erlitt einen bleibenden Nierenschaden, und die Sehkraft auf seinem rechten Auge war fortan beeinträchtigt. Auf dem Polizeirevier mußte Lutz länger als acht Stunden in Handschellen auf dem Rücken liegen.
Sein nur leicht verletzter Kumpel wurde am nächsten Tag wieder freigelassen, er war zu dieser Zeit noch minderjährig. Lutz hingegen konnte in seinem Zustand nicht entlassen werden, also erließ der Staatsanwalt noch am gleichen Tag Haftbefehl gegen Lutz. Nach einem halben Jahr Untersuchungshaft wurde Lutz wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.
Lutz wurde nach Neubrandenburg, in das modernste Gefängnis der DDR gebracht, wo er über zwei Jahre in Einzelhaft saß. Im Januar 1990 wurde er wieder freigelassen.
Danach sprach er kaum mit jemandem. Er schien mit allem gebrochen zu haben und war vollkommen verbittert. Es schien, daß er gar nicht wußte, wie er mit seinem Haß umgehen sollte.
Kurze Zeit nach seiner Haftentlassung wurde er zum Ersten Vorsitzenden der »Nationalen Alternative« ernannt. Es schien so, daß er begann, sich in der Weitlingstraße langsam heimisch zu fühlen. Er hatte nur zu Hausbewohnern Kontakt, auf die Verbindung zu seinen Eltern legte er keinen Wert mehr. Seinen Willen setzte er knallhart durch, und auch ich als Zweiter Vorsitzender hatte ihm damals zu gehorchen. Jeder von uns im Haus war an das Führerprinzip gebunden.
Die zahlreichen Journalisten, die zu uns in die Weitlingstraße kamen, versuchten immer, mich als Interviewpartner
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