Die Abrechnung: Ein Neonazi steigt aus
demokratische Grundordnung anzugreifen und abzuschaffen. Bei einem Verbot sehe ich nicht, wie von der CSU behauptet, die Gefahr, daß Parteien wie die Republikaner oder die DVU aufgewertet oder verharmlost werden. Hier stellt sich vielmehr die Frage, wie lange man es noch zuläßt, daß uniformierte Neonazis mit Pauken und Trompeten durchs Brandenburger Tor marschieren und vor den laufenden Kameras der Weltpresse gegen den Bau des Holocaust-Denkmals protestieren.
Die Zahl der rechtsextremistischen Gewalttaten ist laut Innenminister Otto Schily in den ersten neun Monaten des Jahrs 2000 auf rund 10 000 angestiegen. Das ist deutlich mehr als im Vergleichszeitraum des vergangenen Jahres. Laut Schily sind seit 1990 36 Menschen von Rechtsextremisten ermordet worden. Die Frankfurter Rundschau sowie der Berliner Tagesspiegel berichteten in Sonderausgaben von insgesamt 93 Toten. Diese beiden Zahlen liegen ziemlich deutlich auseinander. Der Chef des thüringischen Landeskriminalamtes Harald Kunkel hat dafür folgende Erklärung: »Es gibt Länder, die alkoholisierte Täter nicht mitzählen, weil diese angeblich kein rechtsextremistisches Gedankengut haben können.« Die von ihm errechnete Bilanz fiel entsprechend aus. Würden sich einige Behörden an die übliche Zählweise halten, hätte Thüringen in diesem Jahr (2000, Anmerkung des Autors) bis Ende Oktober weit weniger als 128 rechtsextremistische Gewalttaten gemeldet: »Dann wären es nur 41.«
Die NPD hat einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, daß rechtes Gedankengut wieder eine fest verankerte Basis in allen Teilen unserer Gesellschaft finden konnte. Hierbei ist nach meinen Erfahrungen keine gesellschaftliche Schicht auszunehmen. Leise Zustimmung kann man mittlerweile in Büros, Arztpraxen, Schule und Kneipen finden.
Das bedeutet konkret, daß wir sogenannten Anständigen eine Menge zu tun haben. Wir sollten wütend werden, ja zornig, wenn in der U-Bahn ein Farbiger angegriffen wird, wenn zum x-ten Mal eine Synagoge mit Steinen oder Brandsätzen beschmissen wird oder wir wieder einmal dem alltäglichen Stammtischrassismus in unserer Lieblingskneipe oder im Supermarkt an der Ecke ausgesetzt sind. Das scheint mir eines der großen Probleme zu sein. Es ist immer noch viel zu normal, ausländerfeindlich zu sein. Es ist »cool« zu sagen, daß einen »diese ganzen Ausländer ankotzen« und einem die Arbeitsplätze wegnehmen, daß man klammheimlich Sympathie für die Brandstifter hat, die die Berichterstattung über Deutschland im Ausland bestimmen. Hier muß jeder einzelne, ob privat, in der Schule, im Büro auf der Straße oder in der U-Bahn seinen täglichen Beitrag leisten.
»Exit«
Ungefähr im August 2000 erreichte mich ein Anruf des SternRedakteurs Ulli Hauser. Er erzählte mir, daß der Stern durch eine größere Geldsammelaktion in der Lage wäre, ein Projekt zu finanzieren, das potentiellen Aussteigern aus der rechten Szene helfen soll. In Schweden gibt es seit mehr als zwei Jahren ein ähnliches Programm, das sehr erfolgreich arbeitet. Geleitet wird es von dem ehemaligen schwedischen Neonazi Kent Lindahl. Ihm ist es gelungen, in den zwei Jahren seit Gründung der Initiative mehr als 83 Personen aus der rechten Szene herauszuholen. Die Organisation in Schweden heißt »Exit«, und in Deutschland sollte nun mit Hilfe der gesammelten Gelder eine gleichnamige Organisation etabliert werden.
Seit meinem Ausstieg aus der rechten Szene habe ich in Interviews, in meinen Lesungen und Gesprächen immer wieder betont, daß wir in Deutschland eine Anlaufstelle für Leute brauchen, die sich mit dem Gedanken tragen, die Szene zu verlassen. Als ich mich entschloß, der rechten Szene den Rücken zu kehren, gab es nichts Vergleichbares. Mein Glück war die Freundschaft und die Hilfe Winfried Bonengels. Ohne ihn wäre es mir nicht gelungen, die Szene zu verlassen. Wenn man sich zum Ausstieg entschließt, muß man recht schnell feststellen, daß es eigentlich niemanden außerhalb der Szene gibt. Die Szene ist so organisiert, daß es keine Kontakte nach außen gibt. Alles, was man braucht, findet man in der Gruppe. Freunde, Musik, Filme, Sport, Spaß, kurz gesagt: gemeinsame Freizeitangebote. Außerdem bieten die Szene und die dazugehörigen politischen Organisationen Aufstiegsmöglichkeiten an, die man in der normalen Gesellschaft nicht hat. Diese Perspektiven mögen dem Außenstehenden lächerlich erscheinen, aber wenn man nichts hat, ist das, was die Szene anbietet, immer
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