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Die Abschaffung der Arten

Die Abschaffung der Arten

Titel: Die Abschaffung der Arten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Dath
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Eigenwerte an die kleinsten Rechenzustände«, hatte sie Dmitri Stepanowitsch einmal erzählt, »und wie das geht – wie man ›ich‹ sagt und wozu das nützt –, das habe ich von ihr gelernt. Sie war sehr groß damals, bedeutend und gefährlich.«

    Als Livienda, seit Jahren verschwunden, nun wieder von sich hören ließ, richteten sofort Hunderte Foren und zahlreiche einzelne Gente Anfragen an die Archive: Wer sie denn sei, wie man sie sich vorzustellen habe, was sie wohl im Schilde führe.
    Ihr erster neuer Forumsbeitrag, in einem abseitigen Gesprächsfaden der Weltkonversation der Gente (betreffend meteorologische Fachfragen), gab große Rätsel auf: »Ich werde den Himmel nie wieder so sehen wie vorher. Ich werde lernen, mich von gestern zu verabschieden.«
    Die Pherinfone zeichneten ein merkwürdiges Bild von der Teilnehmerin, die diese Äußerung getan hatte. Das war ganz offensichtlich eine Maske, die sich aus alten Codes des gewesenen Gründerschwarms herleitete: Das Gesicht bestand aus Torf-Mosaikjungfern und anderen blaugrün schimmernden Insekten; geschwinde Splintböcke hielten den Kontakt der Hohen Frau zum festen Grund und Boden; Schmalbienen, Seidenbienen und Prinzenbienen bildeten den eigentlichen Leib und tanzten nach den verbindlichen Protokollen der geläufigsten Sprachen gentiler Ökotekturen. Nachforschende wurden auf sehr altes Material verwiesen.

    Die Brautephemeriden waren seinerzeit kurz nach der ersten Eheschließung mit dem Löwen öffentlich gemacht worden; wer neugierig war, konnte noch heute alles darüber erfahren. Das ganze schwirrende Agencement, das Livienda damals gewesen war, hatte sich, verrieten die Ephemeriden, während der langen Zeit, in der Cyrus Iemelian Adrian Vinicius Golden um sie geworben hatte, fast täglich vom Löwen dieselbe Vorhaltung machen lassen müssen: »Du bist reizend, meine Liebe. Aber von zwei Dingen bist du ungesund besessen: Das eine ist deine Autonomie; das andre ist deine Autotomie.«
    Sie pflegte zu entgegnen: »Die Autonomie, da redest du von dir selbst. Die kümmert mich wenig, schon weil sie mit Autotomie, wie ich sie verstehe, nicht allzuleicht zusammengeht. Daß man mich zerbrechen kann, ohne mich zu vernichten, und daß meine Beweglichkeit nicht davon abhängt, ob ich mir meine Integrität zum Fetisch mache, der vom einen Augenblick zum nächsten unbedingt mit sich identisch bleiben muß, das wirst du noch als einen Vorzug begreifen lernen. ›Ich bin dies und das, der und der, ein großer Löwe‹: keine gute Idee. Gußeiserne Götter landen früher oder später auf dem Schrottplatz.«
    »Ich mag deine lästerlichen Reden und deine liederliche Zunge«, schmeichelte der Verliebte.
    »Meine Zunge ist viele Zungen«, erwiderte Livienda.
    »Du besitzt eine Sprache, die ich verstehe, auf mehr kommt's mir nicht an. Und wenn du einen, sagen wir: frivolen Standpunkt zur Identität einnimmst, dann soll mir das ...«
    »Diesen sogenannten frivolen Standpunkt wirst du mir noch als Eigenschaft neiden, die alle meine andern von dir geschätzten Eigenschaften an Wert weit übertrifft.«
    Der Löwe ließ es sich nicht nehmen, diese kokette Antwort mit einem Geschenk zu erwidern, das gerade beleidigend genug war, um lustig zu sein: »Hier, Schwarmgeist, hast du einen neuen Leibdiener, der dir zeigen wird, wie schön das ist, wenn man ein Individuum schurigeln kann und immer weiß, um wen es sich dabei handelt.«
    Es war ein autotomes Laufschwein namens Hébert Loskauf, dessen lebenslange Ergebenheit der Löwe unter Brechung von ihm selbst erlassener Gesetze per Fesselpherinfonik an die Krabblergenomik seiner Braut hatte binden lassen. Er ging dabei davon aus, daß Livienda den Klugen, wenn sie seine vergnügliche Anhänglichkeit satt bekam, von ihren Bienen totstechen lassen würde.
    Aber ob nun aus Mutwillen, Trotz, Schalkheit oder Perversion: Sie behielt Hébert Loskauf durch alle Anfechtungen und Stürme der Ehe, sorgte gut für ihn und machte ihn sogar, als sie im sechsten Löwenkabinett des zwanzigsten trikontinentalen Aedilstags zur Bevollmächtigten für Kladismus, Taxonomie und Gametenpartnerrechte ernannt wurde, zu ihrem persönlichen Referenten.
    Das Laufschwein war schlau, pflichtbewußt und im Streit mit politischen Feinden stets tapfer.
    Während der auf beiden Seiten grausamen Ausrottungsfeldzüge nach der Befreiung, als zweihundertvierzig Millionen Gente und drei Milliarden Menschen binnen weniger Monate getötet wurden, trug Hébert einmal

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