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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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Immunität, aber einer Bestrafung sind Grenzen gesetzt, weil man andernfalls einen Märtyrer aus mir machen würde. Außerdem haben wir noch mehr zu erwarten. Ich werde nicht der einzige sein, der den Mund aufmacht. Ich habe genau beobachtet, was sich derzeit in Rumänien tut. Nach außen hin werden die Zügel angezogen, weil im Inneren alles zu zerfallen droht. Ich habe mein Leben der Partei und dem Sozialismus gewidmet. Ich strebe keine andere Gesellschaftsform an und werde eine solche auch nicht unterstützen. Aber die Partei muss jetzt handeln.« Das klang nach einer vorbereiteten Erklärung.
    »Verstehe … Sie sind ein guter Kommunist, möchten aber eine Palastrevolte.« Ich nickte in Richtung der verwaisten Schachtische. »Alles Taktik, nicht wahr?«
    »Nichts, was ich hierzulande oder jenseits unserer Grenzen sehe – ob in Großbritannien, auf dem europäischen Festland oder in Amerika –, kann meinen Glauben daran erschüttern, dass der sozialistische Staat die höchste und gerechteste Gesellschaftsform ist. Nichts. Ich brauche keine Magnaten aus den USA, den Papst oder politische Verfechter des freien Marktes, und ich will auf keinen Fall, dass unser Land zum Spielball der Großkonzerne wird.«
    »Glauben Sie wirklich, dass der sozialistische Staat ohne Ceaușescu wieder funktioniert?«
    »Wieder? Er hat noch nie funktioniert. Sie bilden sich ein, dass der liberale, kapitalistische Staat funktionieren würde. Aber wer profitiert davon? Sicher nicht Ihre Armen und Arbeitslosen oder Ihre Lohnsklaven in der Dritten Welt, deren Bodenschätze Sie ausbeuten. Wer profitiert von billigem Treibstoff? Nicht jene, die ihn erzeugen. Von günstigen Nahrungsmitteln? Niedrigen Produktionskosten? Nichts, was ich gesehen habe, hat mich umstimmen können. Weder Stalin noch Ceaușescu, noch … noch dies …« Er zeigte auf den Schriftzug EPIDEMIA, der kürzlich auf die Wand des Naturkundemuseums gepinselt worden war. »Wenn die Bürger kapitalistischer Länder an das Recht auf Arbeit, gerechten Lohn, kostenlose Gesundheitsversorgung und Bildung glauben, dann nur, weil ihnen der Sozialismus den Weg gewiesen hat. Wohlfahrtsstaat? Nationales Gesundheitswesen? Der Sozialismus hat allen vor Augen geführt, dass das, was manche Arbeitgeber ihren Angestellten aufgrund eines schlechten sozialen Gewissens oder einer paternalistischen Einstellung hin und wieder zugestanden haben, Lebensnotwendigkeiten sind – das Minimum. Sie haben es dem Sozialismus zu verdanken, dass Sie dergleichen für Ihr Recht halten. Vor der Entstehung des Sozialismus waren das alles nur Privilegien, Glücksfälle oder Resultate seltener Wohltätigkeit. Und ich spreche hier noch nicht von sozialer Mobilität! Ohne Sozialismus, ohne Lenin, Trotzki und Victor Serge wäre all das unvorstellbar. Der Kapitalismus verdankt uns sein besseres Selbst.«
    »Auch ohne Stalin?«, fragte ich, um seinen plötzlichen Anfall von Idealismus zu dämpfen.
    Trofim sah mich an, erst verletzt, dann mit einem trockenen, ausweichenden Lächeln. »Was hat Ihr Freund Leo in den letzten Monaten immer wieder gesagt? Mitspielen oder möglichst rasch abhauen?«
    »So etwas in der Art …«
    Wir beobachteten einen streunenden Hund mit gescheckter, gelblich rosa schimmernder Haut, der an der Urinspur eines Artgenossen schnüffelte. Er stieß die Schnauze in den nassen Kies, dann schlug er sich in die Büsche. »Er könnte recht haben, wenn auch anders, als er glaubt. Niemand wird mich für einen kapitalistischen Abweichler halten. Wie Sie wissen, habe ich mir die Hände für die Partei schmutzig gemacht, und das werden andere auch bald erfahren. Ich habe Säuberungen vorgenommen, Leute diskreditiert. Ich habe sogar Menschen getötet, jedenfalls auf dem Papier – durch meine Unterschrift. Ich will keine Revolution.«
    »Wie ich schon sagte: Sie möchten eine Palastrevolte.«
    »Ich möchte einen Übergang ohne Blutvergießen. Hier wird es keine Revolution geben. Das entspräche nicht dem Wesen der Rumänen.«
    »Und wenn doch?«
    »Die Partei wird eingreifen, und das werde ich unterstützen. Gorbatschow hat recht: Wir können nur überleben, wenn wir uns öffnen und liberalisieren. Aber wir müssen die Kontrolle behalten. Die Ceaușescus sind austauschbar. Sie kommen und gehen. Die Partei bleibt.«
    Er schwieg plötzlich wieder. Ein bewegliches, subversives Denken, ein Sinn für Humor, intellektuelle Brillanz – all das besaß Trofim. Zugleich zeichnete er sich durch eine gewisse Härte

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