Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
werden erwischt oder enden wie diese armen Kerle, die sich im Fluss den Bauch aufgeschlitzt haben. All das gehört zu einem halboffiziellen Plan. Wenn jemand entkommt, dann nur, weil er dafür bezahlt hat. Meist schmuggelt man die Mädchen in den Westen und zwingt sie dort zur Prostitution. Wenn sie an ihrem Bestimmungsort eingetroffen sind, haben sie keinen Pass und kennen ihre Rechte nicht. Wenn die Männer nicht das Glück haben, den Leuten zu entkommen, die ihnen angeblich helfen wollen, landen sie als Zwangsarbeiter in den Bergwerken oder im Knast. Jene, die davonkommen, schließen sich Banden an, die auf dem Schwarzmarkt tätig sind oder Menschen schmuggeln. Überleg doch mal – von überall strömen Leute in den Westen. Und dann hört man, dass das Mädchen, das ein neues Leben beginnen wollte, in irgendeiner deutschen Stadt Freiern auf dem U-Bahnsteig einen runterholt.«
Ich musste an den Fernfahrer denken, der geprahlt hatte, zwei rumänische Mädchen auf einmal in seiner Kabine gehabt zu haben. Die Vorstellung, dass es wenigstens diesen Menschen gelungen war, zu fliehen und ein neues Leben zu beginnen, hatte Ottilia immer Kraft gegeben. Doch nun fügte sich alles zusammen: die ausbleibenden Anrufe und Briefe, die glatt verlaufenden Fluchten, bei denen niemals Grenzbeamte auftauchten und der Strom jedes Mal rechtzeitig abgeschaltet wurde. Diese Menschen flohen nicht vor dem System – nein, sie waren Teil des Systems, das sich mit ihrer Hilfe an neuen Orten einnistete. Man hatte das Gefühl, zwangsweise an einem Gesellschaftsspiel mit einem unendlich großen Brett teilzunehmen, dessen Spieler nie wechselten. Ein Gedanke, der schon schlimm genug war, aber was Leo dann sagte, klärte die Sache definitiv auf und ließ sie in einem noch schrecklicheren Licht erscheinen.
»Es hat eine Weile gedauert, bis ich das Ganze durchschaut habe. Vintul hat mich ausgetrickst. Was soll ich sagen? Ich kannte ihn seit vier Jahren, und er hat sich kein einziges Mal verraten. Damals, am Boulevard des sozialistischen Sieges, als die Polizei mit den Hunden kam – da wäre er aufgeflogen, wenn sie uns erwischt hätten. Er hat uns zur Flucht verholfen, damit er die Sache regeln, die Hunde töten und die Polizisten ablenken konnte. Sie hätten uns schnappen können, wenn sie gewollt hätten. Sogar diese Idioten, die nachts Dienst tun, hätten zwei Betrunkene und ein zugedröhntes Mädchen fassen können. Mel …« Bei der Erinnerung an sie schüttelte Leo den Kopf. »Dieser Mistkerl hat die Bullen bestimmt zusammengestaucht, ihnen befohlen, sich zu verpissen, sie darauf hingewiesen, dass sie eine Operation stören. Danach hat er die Hunde getötet – nur um zu zeigen, dass er fähig dazu ist.«
Die Schäferhunde mit zerfetzter Kehle, der Boden, klebrig von ihrem Blut. Kein Messer. Nur Hände und Zähne. Leo schwieg kurz. »Aber hier, auf dieser Seite der Grenze, ist die Geschichte noch längst nicht zu Ende. Sie handeln hier seit Jahren mit Menschen. Zuerst haben sie die Juden an Israel verkauft – eine ethnische Säuberung und die Gelegenheit, Geld zu machen. Das ist Stoicus Spezialität, und dafür lieben ihn die Ceaușescus, vor allem Elena. Dann war die deutsche Minderheit an der Reihe. Und danach haben mehrere hohe Funktionäre die Chance gewittert, in die eigene Tasche zu wirtschaften. Aber die Dinge ändern sich. Sie wissen, dass sie nicht ewig so weitermachen können. Sie müssen etwas auf die hohe Kante legen, falls alles den Bach runtergeht. Vintul hatte auch sein kleines Geschäft: Er hat dafür kassiert, die Leute über die Grenze zu schaffen – und drüben verhaften zu lassen. Aber sogar er hat für jemand anderen gearbeitet.«
»Und wer ist jenseits der Grenze tätig?«, fragte ich. »So etwas funktioniert doch nur mit einer Organisation. Man braucht Geld und Netzwerke …« Noch während ich dies aussprach, dämmerte es mir: Belanger. Er war allgegenwärtig, und er war mir überall vorausgegangen. Er war zwar außer Landes, aber stärker präsent als ich.
»Belanger und ich fingen vor einigen Jahren gemeinsam an. Wir hatten eine super Sache am Laufen. Hier ein wenig Schwarzmarkt, da ein bisschen Grauzone. Er hatte ein Händchen für das Geschäft, war ein Naturtalent, hatte Visionen … Einer, der Chancen erkennt. Er bot als erster Raubkopien von CDs und Videos an, Actionfilme, Pornos, alles, was du willst. Er handelte schon bald mit Waren, die ich nicht mal angefasst hätte – Drogen, mit allem
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