Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
am Schnürchen laufen, war in Wahrheit ein verdrossenes und zähes Dahinschleppen.
Cilea tippte einen Mann auf die Schulter und bat ihn um sein Plakat. Er war erst misstrauisch, dann froh, seinen Arm entlasten zu können. Auf dem Plakat prangte ein vergrößertes Passfoto von Manea Constantin im Stil des kommunistischen Barocks: schlichtes graues Sakko, bis oben zugeknöpftes Hemd, scharfer Blick, das Ganze gerahmt von Hammer-und-Sichel-Motiven. Zwischen den zahllosen Nicolaes und Elenas gab es vielleicht ein oder zwei solcher Bilder; niemand durfte besser aussehen, niemand häufiger auftauchen als das an der Spitze des Landes stehende Paar.
Cilea gab mir das Plakat. Das Gesicht des Mannes kam mir irgendwie bekannt vor, aber als mir aufging, dass es ihr Vater war, hakte ich dies als Zufallsentdeckung ab und ging weiter – ein Beweis dafür, dass ich den grotesken Alltag dieses Landes schon gar nicht mehr wahrnahm.
Wir marschierten Händchen haltend zehn Minuten auf der Calea Victoriei mit. Cilea, beschwipst, lachend, elegant, zog mürrische Blicke auf sich. Was mich betraf, so hatte ich zwar nie sehr auf meine Kleidung geachtet, stellte aber zu meinem Entsetzen fest, dass ich hier kaum auffiel.
Die Stimmung war aggressiv und gleichzeitig mutlos. Man trat auf die Hacken seiner Vordermänner, rammte einander die Ellbogen in die Nieren, spuckte aus, stellte sich anderen in den Weg, um schließlich grummelnd auszuweichen. Alles stank nach Dreck und Schweiß, und manchmal hatte ich das Parfüm Cileas in der Nase, die sich vor mir durch die Menge schlängelte. Einmal kam der ganze Aufmarsch ins Stocken, und ich wurde gegen sie gestoßen. Sie drückte ihren Rücken durch und legte den Kopf auf meine Schulter; ihr Hals hing dicht vor meinen Lippen, ihr Haar war warm und schwer.
»Wenn sie das Stadion erreichen, müssen sie drei Stunden lang Reden und Zeremonien über sich ergehen lassen«, rief Cilea in den Lärm. Sie schien die Leute nicht zu bedauern. Die Sonne brannte, und viele hatten nichts von diesem »Tag der Freude«, weil sie hier mitmarschieren mussten. Später würden sie über Baustellen und durch urbane Einöden in ihre Wohnungen am Stadtrand zurückkehren. Sie gingen weiter, flankiert von Soldaten und Milizionären. Manchmal brach jemand aus, versuchte, in einer Seitenstraße unterzutauchen, nur um von den Hütern dieser Menschenherde ein paar Hiebe zu kassieren und zurückgeschleift zu werden. Cilea und mir gelang es, aus der Reihe zu tanzen und die Marschformation zu durchbrechen. Ein oder zwei Anzugträger versuchten uns aufzuhalten, salutierten jedoch nach einem Blick auf Cileas Ausweis und ließen uns durch. Einige Monate später, während jener bizarren Tage in einer Stadt im Würgegriff, würden diese jungen Männer auf ihre Mitbürger schießen. Ich fragte mich, wohin Cilea wollte. In zwei Kilometern Entfernung war das nach römischem Vorbild erbaute, offene Tor des Stadions des Volkes zu erkennen.
Cilea zog mich ohne Vorwarnung in eine Seitenstraße und dort bis zu einem Zaun. Ein Wachmann knallte die Hacken zusammen und ließ uns ein. Ich machte große Augen bei dem Anblick, der sich mir bot: ein Boulevard, gesäumt von Kirschbäumen, deren Blütenblätter die Bürgersteige bedeckten; ein Geschäft mit mattierten Scheiben, bewacht von uniformierten Milizionären; Straßen, zur Kühlung mit Wasser besprengt; ein Geruch nassen Asphalts in der Luft. Schwarze Dacias und Mercedes parkten vor blitzblanken Bordsteinkanten. Ein Gärtner beugte sich über makellose Tulpen, als wollte er ihren Puls messen. Alles war üppig und frisch. Cilea führte mich auf einen schattigen Innenhof. Dort sprudelte ein Springbrunnen, die Balkone waren begrünt. Ich folgte ihr in ein kühles Treppenhaus, das sich spiralförmig in die Höhe schraubte. Im Flur duftete es nach frisch gebrautem Tee. Ihre Wohnung befand sich im ersten Stock.
Ich hatte geahnt, dass Cilea die Tochter eines hochrangigen Parteimitglieds war. Das verriet schon ihre Ausstrahlung der Unberührbarkeit, die, obwohl es sich um einen klassenlosen kommunistischen Staat handelte, jene Aura der Leichtigkeit war, die Reiche und Privilegierte überall auf der Welt auszeichnete. Die Welt der Materie, ja selbst die Luft schien sich aufzutun, um sie durchzulassen. Man erkannte diese Leute daran, dass sie durch das Leben gingen, ohne vom Leben berührt zu werden. Cilea gehörte zu ihnen, war ein Mitglied dieser internationalen Gemeinschaft der Leichtigkeit. Nur
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