Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
Entbehrungen des Alltags sein müssen, der einzige dem staatlichen Zugriff entzogene Bereich. Aber so war es nicht, wie Rodica inzwischen wusste. In anderen kommunistischen Ländern gehörte einem wenigstens der eigene Körper; er war vielleicht der einzige legale Besitz. Vögeln war eine Flucht. »Aspirin des armen Mannes« hieß es hier. Doch in Wahrheit vögelten nur die Privilegierten sorgenfrei; für alle anderen bedeutete Sex keine Erlösung, sondern wurde wie vieles andere auch durch Vorsichtsmaßnahmen und Heimlichtuerei verdorben.
Abtreibung und Verhütung waren in anderen Ostblockstaaten verbriefte Rechte. Hier war beides gefährlich und illegal. Kondome waren sogar auf dem Schwarzmarkt Mangelware; man benutzte sie mehrmals, wusch und trocknete sie, rollte sie wieder auf. AIDS war immer noch ein Tabu und offiziell nicht existent, aber man spürte, dass die Krankheit um sich griff, durch Leugnung und amtliche Vertuschung nicht eingedämmt werden konnte. Ich hatte sie gesehen: EPIDEMIA, Lettern, die wie Feuer brannten; ich konnte nachts das Klingeln ihrer Kassen hören, das Rascheln der Geldscheine in den Hotels und Clubs, in denen die Nutten arbeiteten.
Cileas schwedische Stereoanlage spielte Joni Mitchell: »Oh I could drink a case of you, darling / And would still be on my feet«, im Hintergrund fauchte die Espressomaschine. Cilea brachte zwei heiße Kaffee und Schokolade aus der Schweiz, die sie in Stückchen brach und auf der Silberfolie auf das Bett legte. Sie lebte in einer reibungslosen Welt, ging durch das Leben, ohne dass etwas hakte oder schleifte; es gab keine Hemmnisse. Wenn ich bei ihr war, hielt ich mich auch in dieser Welt auf, lebte wie auf einem Luftkissen, und nur die gemeinsamen Freuden sorgten für Intensität: Nachts schlang ich meine Arme um sie und drückte mein Gesicht gegen ihre Schulterblätter, bis sie sich schläfrig meinem Griff entwand und das Oberbett wegstrampelte. An jenem ersten Nachmittag trockneten unsere verschwitzten Körper im lauen Wind. Cileas Arm ruhte schwerelos auf meiner Brust, und ich drückte sie fest an mich.
Wir verdämmerten den Höhepunkt des Feiertags: Hunderte Sänger schmetterten ein Lied – der Text wurde angezeigt: totalitäres Karaoke – über Ceaușescus Heldentaten als Kämpfer gegen den Faschismus. Ceaușescu lud gern Führer aus Ländern der Dritten Welt zu einem, wie es in der Scînteia hieß, »brüderlichen Austausch zwischen Steuermännern« ein, denn sie kamen gern und erwiderten seine Einladungen. Das Tempo, mit dem diese Regime zusammenbrachen oder gestürzt wurden, sorgte im Cotroceni-Palast für einen zuverlässigen Zustrom immer neuer internationaler Steuermänner.
Ceaușescu hatte früher Persönlichkeiten wie Chruschtschow, Nixon oder die britische Königin empfangen. Inzwischen kamen nur noch Generalbevollmächtigte aus Zwergstaaten und Würdenträger aus Winzländern. Er herrschte seit fast fünfundzwanzig Jahren; sie umschwärmten ihn wie Fische einen Fels in einem flachen Fluss. Marx hatte die Geschichte als große, von Logik und Notwendigkeit gesteuerte Kraft bezeichnet, die man nicht beschleunigen, sondern auf der man nach guter Vorbereitung bestenfalls mitreiten könne; auf die Frage, ob die Französische Revolution erfolgreich gewesen sei, hatte Mao nur geantwortet, es sei »noch zu früh, um das beurteilen zu können«. Der Glaube hatte einst Gerechtigkeit und Genüge in einer kommenden Welt verheißen; im gleichen Sinne stellte der Kommunismus das Dasein als ewiges Vorspiel hin. Die Verheißung einer besseren Welt war ein uralter Trick – hatte man, wenn man sich umsah, eine andere Wahl? –, aber die Geschichte hatte keine langfristigen Pläne mit diesen Leuten. In diesem Fall schliff sie ihr dialektisches Ticken nicht über Generationen ab, um nach der Vervollkommnung der gesellschaftlichen Bedingungen ihr eigenes Ideal zu entfalten. Nein, hier war die Geschichte eine Stoppuhr: Sie tickte laut und deutlich hinter dem Rücken dieser Leute, zählte sie aus.
NEUN
»Ich habe Lust auf Kojak «, verkündete Leo.
Ceaușescus Vorliebe für Kojak war ebenso legendär wie lächerlich, und sie dämpfte den Schrecken, den sein Name verbreitete, gerade so viel, dass Raum für ein klein wenig Humor blieb. Wenn der Conducător einen guten Tag gehabt hatte, guckte er abends in seinem Privatkino Kojak , um sich noch etwas länger im Gefühl seiner Größe aalen zu können. Aber er wandte sich dem Graecoamerikaner mit der golden
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