Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
hatte ich bis zu diesem Nachmittag nicht gewusst, dass ihr Vater mehr war als nur ein Angehöriger der Nomenklatura. Ihre Wohnung, in der sie allein lebte, hätte für zwei Familien gereicht. Das Wohnzimmer schien einem Katalog für skandinavischen Minimalismus entsprungen zu sein und bot alles, von amerikanischen Zeitschriften und Filmen über britische Bücher bis zu japanischer Elektronik. In der Küche gab es Oliven, Amaretti, französische Weine, englische Kekse. An den Wänden hing rumänische Kunst, in den Regalen standen viele Fotos: Cilea mit ihrem Vater vor Big Ben, dem Palazzo Pitti, einem Bootshaus in Harvard. Auf einem Foto spielte ein kleines Mädchen, eindeutig Cilea im Alter von fünf oder sechs Jahren, mit anderen Kindern auf einem grünen Rasen. Ganz in der Nähe speisten Erwachsene im Freien an einem Tisch, an dessen Kopfende Nicolae Ceaușescu saß, die Ellbogen aufgestützt und seine Frau an seiner Seite, hinter sich zwei Leibwächter. Die Diener, ganz am Rand des Fotos stehend, strahlten eine die eigene Person verleugnende Dienstbeflissenheit aus, wie man sie von vergleichbaren Bildern gekrönter Häupter des neunzehnten Jahrhunderts her kannte. Sie hätten auch einem Zar, Kaiser oder Sultan aufwarten können.
Im Zentrum aller Bilder stand das Foto einer schönen, jungen Frau mit den gleichen dunkelbraunen Augen und kräftigen schwarzen Haaren wie Cilea, der gleichen goldbraunen Haut, den gleichen roten Lippen. Frisur und Kleidung deuteten an, dass das Foto Mitte der siebziger Jahre aufgenommen worden war. Im Hintergrund sah man Sonne, blaues Meer und weiße Fährschiffe, und dass es nicht Cannes, sondern Constanţa war, verrieten nur die schlecht gekleideten, graugesichtigen Parteibonzen, von denen sich die Frau ebenso strahlend abhob wie ihre Tochter heute. Auf dem Foto trug sie die gleiche Kette wie Cilea jetzt, ein Sichelmond aus gehämmertem Silber an einer Kette, so fein, dass sie sich zwischen den Fingern wie Wasser anfühlte. Cilea und ich hatten etwas gemeinsam: Wir hatten beide in jungen Jahren unsere Mutter verloren, und wir trauerten beide auf jene vage, verschwommene Art um sie, die alles trübte, was man fühlte oder tat. »Als meine Mutter starb, war ich acht. Wenn ich mich an sie erinnern will, betrachte ich die Fotos. Wenn mein Vater sich an sie erinnern will, betrachtet er mich.« Cilea legte ihren Kopf in meinen Schoß. Ich lehnte mich zurück und streichelte ihr Haar, zog ihr Gesicht zu mir heran und küsste ihre Augen, heiß von nie geweinten Tränen.
An jenem Nachmittag schliefen wir miteinander. Ich erfuhr nie, was sie zu diesem Sinneswandel veranlasst, warum sie mich in meiner Wohnung besucht, woher sie gewusst hatte, wo ich zu finden war, und ich fragte auch nie danach. Hätte ich all das gewusst, dann wäre ich besser auf das vorbereitet gewesen, was geschah, oder hätte wenigstens begriffen, welche Rolle ich dabei spielte. Aber ich hatte schon gelernt, keine Fragen mehr zu stellen, mich über nichts zu wundern, nicht zu tief zu graben.
Cilea war im Bett direkt, fordernd, ohne falsche Scham. Was den Sex im Ostblock betraf, so hatte ich durch die tschechischen Filme, die gegen Mitternacht im Kultursender liefen, gewisse Vorurteile: Ich stellte mir eine explosive Mischung aus Haarspray, Körpergeruch, Pflaumenschnaps vor; schmuddelige Laken, struppige Achselhöhlen und ein Hauch von Knoblauch. Doch was ich jetzt erlebte, war eher Blümchensex, und diese Diskrepanz war typisch für Rumänien, ein Land, in dem sogar die Bulgaren ihre eigenen Lebensmittel einführten.
Cileas Reisepass lag neben französischen Verhütungspillen auf dem Nachtschrank – zwei der in Rumänien am strengsten kontrollierten Dinge, Reisetätigkeit und Fruchtbarkeit, Seite an Seite. Beides konnte einen ins Gefängnis bringen, aber Cilea hatte nichts zu befürchten. Ich dachte an die im Krankenhaus liegende, von Leid und Tod umgebene Rodica und den Zorn von Dr. Moranu. Hier, in Cileas Wohnung, schien ich mich in einer anderen Sphäre zu befinden, die aber auf verquere Art mit der Alltagswelt verbunden war. Ich verdrängte diesen Gedanken. Ich habe mit alledem nichts zu tun …, hatte Cilea gesagt. Das reichte mir damals, und es reichte mir, weil ich es so wollte.
Das Regime basierte auf Falschheit: auf falschen Produkten, falschem Geld, falschen Gefühlen. Aus Privatheit wurde Einsamkeit, aus Gemeinschaft ein Massenzwang, aus Sex Fortpflanzung. Eigentlich hätte Sex eine Entschädigung für die
Weitere Kostenlose Bücher