Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
Leo strich das Positive heraus: »Sie müssen das Gute sehen – immerhin verlangt man nicht von Ihnen, die Computerisierung des Seminars vorzunehmen!« Ionescus Miene war mehr als deutlich anzusehen, dass er sich gegen diesen Optimismus sträubte. »Wann kommt Ihr Nachfolger?«, fuhr Leo fort. »Und noch wichtiger: Wer ist es?«
»Das hat man mir nicht gesagt. Niemand wird es mir sagen.« Ionescu seufzte tragisch.
Wir luden seine Sachen in Leos Auto. Die Gerüchte waren in der Hackordnung so tief durchgesickert, dass sogar die Fahrbereitschaft Wind von Ionescus Absetzung bekommen hatte. Kollegen wandten den Blick ab oder gingen ihm in den Fluren aus dem Weg. Einige würden ihn vielleicht besuchen, sobald sich die Wogen geglättet hatten, aber zunächst galt das Prinzip des Abstandhaltens. Ionescu wurde allmählich unsichtbar, löste sich an den Rändern auf. Bis spätestens siebzehn Uhr hätte man sein Namensschild an der Tür abmontiert, bis Montag seine Bücher aus den Regalen in der Bibliothek geräumt. Als wir uns verabschiedeten, kam ein Mann im Blaumann auf ihn zu, sein abservierter Vorgänger, und schüttelte seine Hand.
Der nächste Schritt wäre noch heikler für Ionescu: Er musste seiner Frau erklären, warum sie das Zweifamilienhaus in Herastrau verlassen und in eine nagelneue, aber bereits verkommene Zweizimmerwohnung am Stadtrand ziehen mussten. Falls sie das Glück hatten, in der Stadt bleiben zu dürfen.
Ionescu würde am nächsten Montag noch einmal kommen, um zu hören, welche neue Arbeit man ihm zugedacht hatte. Das konnte alles sein, vom Parkplatzwächter in der Provinz bis zum Tellerwäscher in der winzigen Spülecke irgendeiner Kantinenküche.
»Bibliotheksgehilfe!«, rief Leo jubelnd in den Hörer. »Er ist jetzt Bibliotheksgehilfe! Hier!«
Es war Samstagvormittag. Ich war allein und hörte den World Service, der über die Solidarność berichtete. Ich hatte nachts schlimme Albträume gehabt, war gegen vier Uhr früh im schweißnassen Bettzeug aufgeschreckt und hatte mich in die Spüle übergeben – so tief saß mir der Schock in den Knochen. Der alte Albtraum, den ich in London zurückgelassen zu haben glaubte, war wiedergekehrt: Meine Eltern, zufrieden und glücklich miteinander wie nie in ihrem Leben, winkten mir vom anderen Ende eines riesigen Raums. Diesmal aber, da ich in Rumänien war, war aus dem Raum die verkommene, mit Marmor ausgekleidete Grotte am Boulevard des sozialistischen Sieges oder die teuflische Disco oder der Speisesaal in Snagov geworden. Als ich auf meine Eltern zuging, warnten sie mich, näher zu kommen. Sie umschlangen einander, wanden sich, krümmten sich vor Schmerz, verbrannten von den Rändern her wie Laub, und während sie lautlos schrien, wurden ihre Gesichter zu Knochen und Asche.
Das hatte ich jahrelang geträumt, sogar schon zu Lebzeiten meines Vaters. Ich hatte mir eingebildet, diesen Traum in Bukarest abgeschüttelt zu haben, doch ich hatte nur zwischenzeitlich die neue Umgebung verinnerlicht. Der Traum war noch grauenhafter als früher, und er hallte nach, obwohl ich schon seit Stunden wach war. Ich hatte noch den Brandgeruch in der Nase.
Nach Monaten scheinbar müheloser Anpassung holte mich im Schlaf alles ein, was ich überwunden zu haben meinte. Cilea hatte mich verlassen; ich hatte mich Petre und Vintul gegenüber schuldig gemacht, obwohl ich nicht genau wusste, wie; ich saß zwischen unüberschaubarer Korruption in der Falle und schwebte ständig in Gefahr, weil ich – wenn auch eher passiv – in zahlreiche Aktivitäten verwickelt war. Am schlimmsten war, dass ich weder an einen Ort noch zu einem Menschen zurückkehren konnte. Tja, aber genau das wolltest du doch, oder nicht? , hörte ich mich fragen.
»Das soll eine gute Neuigkeit sein?«, fragte ich, immun gegen Leos Begeisterung.
»Denk mal darüber nach. Es hätte viel schlimmer kommen können – er hätte vielleicht in Turda Toiletten putzen müssen.« Mir fiel ein, dass es irgendwo im Nordosten einen Ort gab, der so hieß, eine Stätte bescheidener Gelehrsamkeit. »Er kann lesen, muss die Stadt nicht verlassen, wir können uns mit ihm treffen. Glaub mir – er hat Schwein gehabt.«
»Und der Haken an der Sache?«
»Der neue Boss, Popea. Schleimer. Spitzel. Jasager. Brontë-Spezialist.« Entsprach diese Reihenfolge der abnehmenden oder der zunehmenden Perfidität? Ion Popea war ein paranoider Funktionär, der so sehr darauf versessen war, in allen Äußerungen eine versteckte
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