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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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Freundschaftskreis wird bespitzelt. Man weiß alles. Die Frage ist nur, wer aufgrund dieses Wissens handelt und warum er sich dazu entschließt. Wenn Sie herausfinden, warum man Ihre Freunde aus dem Verkehr gezogen hat – falls dem so wäre –, wissen Sie auch, wer es getan hat.«
    Ich nickte. Das klang einleuchtend. Ich glaubte, die Auswüchse der staatlichen Paranoia nachvollziehen zu können, die diesen Mechanismen zugrunde lagen. Irgendwo wusste immer jemand, was man gerade tat; das wussten mehrere Personen zugleich. Aber wie verwendete man dieses Wissen? Tauschte man es, handelte man damit? Gut möglich, dass jene, die Bescheid wussten, ein jeder mit jeweils anderen, vielleicht sogar einander widersprechenden Aufgaben, ihr Wissen zurückhielten und einem so eine Deckung verschafften, die der hierzulande so gut wie unmöglichen Anonymität nahe kam. Leo verließ sich auf solche Informationsstaus, um seine Halbweltkarriere zu verfolgen und das versunkene Bukarest zu bewahren und zu rekonstruieren.
    Hinter uns beugten sich mehrere Minister sowie zwei Architekten mit Rollkragenpullover und schwarzem Brillengestell über Baupläne. Manea ergriff meinen Ellbogen und flüsterte: »Die Zügel werden gerade angezogen – wie immer, wenn ein Teil des Systems ins Wanken geraten ist oder wenn der Genosse aus irgendeinem Grund verängstigt ist. Das kann sich in einigen Monaten wieder ändern, und dann sieht man vielleicht klarer. Sie sollten jedoch vorerst den Kopf einziehen.«
    Andere Gäste kamen auf die Terrasse. Manea schwieg, und wir lauschten den Architekten und Ministern. Eine Ministerin verkündete, dass der Kanal, der im Stadtzentrum angelegt wurde, einen anderen Verlauf nehmen müsse. Auf dem Stadtplan, den sie auf ihren Knien ausgebreitet hatte, war eine schnurgerade, durch mehrere Viertel führende rote Linie eingezeichnet worden. Einer der Architekten wies sie ruhig, aber bestimmt darauf hin, dass man in diesem Fall nicht nur den bereits ausgehobenen Kanal, an dem man seit drei Monaten arbeite, wieder auffüllen, sondern auch zwei alte Vororte abreißen müsse. Die junge, pflichteifrige Ministerin antwortete mit einem bekannten Schlagwort: »Das sind unbekannte Gewässer, aber wir haben einen guten Kapitän.« Der Architekt argumentierte gedämpft weiter, zog die rote, quer über den Bukarester Stadtplan führende Linie mit dem Finger nach. Das Schweigen, das daraufhin eintrat, zeigte, dass er zu weit gegangen war. Die Ministerin änderte ihre Taktik und fragte ihn auf den Kopf zu, ob er sich der Folgen seines Ausstiegs aus dem Projekt bewusst sei. Er bejahte, stand auf und bedankte sich für das Essen, wollte gehen. Sein Kollege rutschte nervös auf dem Stuhl hin und her. Ein stellvertretender Minister, der schweigend zugehört hatte, stellte den Kaffee ab, legte dem Architekten eine Hand auf die Schulter und redete langsam und ruhig, aber mit einem drohenden Flüsterton auf ihn ein, der zum Mithören bestimmt war.
    »Hör zu, du bourgeoises Schwein. Es funktioniert so: Der Bau geht weiter, ob mit oder ohne dich, nur dass der Kanal dann von dir und deiner Judensippe ausgehoben wird, und zwar an sieben Tage in der Woche. Dann ist Schluss mit geregelten Arbeitszeiten und der Wohnung in Herastrau. Du wirst Nachtschichten schieben und im Arbeiterwohnheim leben. Und deine Kinder – sie sind vier und sechs, oder? – werden in einem staatlichen Waisenhaus landen, vielleicht in Iași – schon davon gehört? Wenn dir dein schwarzer Pullover und dein Johnnie Walker lieb ist und wenn deine Frau auf Tampons aus dem Westen Wert legt, dann nick einfach, und wir vergessen deine Abweichung vom guten sozialistischen Geschmack.«
    Der Architekt war isoliert. Sein Kollege ließ ihn im Stich. Die Ministerin sah auf ihre Schuhe. Alle anderen taten so, als hätten sie nichts mitbekommen, würden diese Worte jedoch ebenso wenig vergessen wie wir. Manea stellte kopfschüttelnd den Kaffee ab, aber ich ahnte, dass er ähnliche Drohungen ausgestoßen und noch Schlimmeres getan hatte.
    Was dann geschah, kam unerwartet. Der Architekt zog die Hand des Mannes von seiner Schulter, warf die Serviette auf den Tisch und ging. Sein Kollege schlug die Hände vor das Gesicht. Die Ministerin war sprachlos. Der Mann, der dem Architekten gedroht hatte, setzte das bösartige, verkniffene Lächeln eines gedemütigten Sadisten auf.
    Ich hatte offenbar zu auffällig gelauscht und zugeschaut, denn Manea ergriff mich beim Arm und führte mich über die

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