Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit
das seltsame Gefühl, ich würde beobachtet werden. Ich drehte mich um und sah das sehr schwache Bild eines jungen Mädchens, das hinter mir durch den Flur ging. Zuerst hielt ich es f?r eine Luftspiegelung, aber es war eher, als h?tte sich der Vorhang zwischen dieser und einer anderen Welt gehoben. Sie trug eine kurze Tunika und nichts als Str?mpfe an den Beinen, und ihre Haare waren so flammendrot wie meine. Als ich sie leuchten sah, halb durch den Spalt verborgen, der zwischen uns lag, kam es mir so vor, als k?nnte ich das Rauschen von Wellen h?ren, das Salz des Meeres schmecken ?
Unser ›Spiel‹ hatte sich als erfolgreich erwiesen, als unglaublich wirklich. Jetzt brenne ich darauf, mehr zu erfahren und alle Geheimnisse zu lüften.
Noch nie habe ich mich so lebendig gefühlt.
Zehn
N och nie hatte ich mich so niedergeschlagen gefühlt. Es war, als wäre ein Teil von mir gestorben. Alles in Wyldcliffe kam mir seltsam vor und bereitete mir Unbehagen – nein, mehr als nur Unbehagen, es fühlte sich bedrohlich an. Bei jeder Bewegung zuckte ich zusammen, jede Nacht hatte ich beunruhigende Träume, und jeden Morgen erwachte ich mit einem Gefühl im Magen, als würde mich etwas herunterziehen.
Ich erklärte es mir damit, dass diese Schule einfach vollkommen anders war als alles, was ich bisher kennen gelernt hatte. Schon bald, sagte ich mir, würde ich mich daran gewöhnt haben. Würde ich auch stärker werden. Sei realistisch, Evie; diese Lehrerin hat natürlich keinen Dolch in ihrer Tasche gehabt. Es war nur ein Brieföffner, der wie ein Messer geformt war. Und natürlich hatte ich nicht wirklich gesehen, wie Laura ertrunken war. Es war nur ein Traum gewesen. Und das Mädchen mit den flammendroten Haaren war eine Einbildung. Es gab keinen Grund zur Sorge. Ich war nur ängstlich und hatte Heimweh. Aber irgendwie glaubte ich nicht an das, was ich mir einzureden versuchte.
Als ich eine Woche in Wyldcliffe war, kam endlich ein Brief von Dad. Er lag zusammen mit den Briefen der anderen Sch?lerinnen auf einem langen Tisch in der Eingangshalle. Mein Herz machte einen Sprung, als ich seine ordentliche Handschrift erkannte. Ich steckte den Brief in meine Tasche und z?hlte die Sekunden, bis die Glocke zur Morgenpause klingelte. Als es dann so weit war, folgte ich meinen Klassenkameradinnen auf die Terrasse hinaus, von der aus man das Gel?nde ?berblicken konnte. Die anderen Sch?lerinnen scharten sich um Celeste, die sich ?ber einen atemberaubenden Urlaub auslie?, den sie in irgendeinem exklusiven Inselparadies verbracht hatte. Helen war im Klassenzimmer geblieben und las, und auch Sarah konnte ich nirgends entdecken. Da sie ihre ganze freie Zeit im Stall verbrachte, sah ich sie nicht oft.
Niemand verwickelte mich in irgendein Gespräch oder reichte mir eines von den Plätzchen oder der heißen Schokolade, die zu dieser Tageszeit gewöhnlich serviert wurden. Es war, als wäre ich durch Celestes Abneigung irgendwie unberührbar geworden. Ich redete mir ein, dass es mich nicht kümmerte, und lief hinunter zur Ruine, um in Ruhe meinen Brief zu lesen.
Liebste E.
Ich hoffe, du hast dich inzwischen an deine neue Schule gewöhnt und Freunde gefunden. Was hältst du von Wyldcliffe? Die Landschaft da oben ist sehr schön. Deine Mutter und ich waren dort, als wir frisch verheiratet waren. Clara wollte das alte Bauernhaus sehen, in dem früher ihre Familie gewohnt hat. Ich erinnere mich, dass wir meilenweit durch die Moors gewandert sind, ohne irgendeiner Menschenseele zu begegnen, aber natürlich kann sich das inzwischen geändert haben. Ich kann dir nicht sagen, wie froh ich bin, dass du das Gl?ck gehabt hast, ein Stipendium f?r Wyldcliffe zu erhalten. Damit ist mir eine enorme Last von der Seele genommen worden, denn jetzt wei? ich, dass du gut versorgt bist. Morgen gehe ich wieder ins Ausland. Es wird mir guttun, wieder bei meinen M?nnern zu sein und mich der Arbeit zu widmen, die wir zu verrichten haben, aber ich werde jeden Tag an dich denken. Ich habe Frankie heute Morgen im Pflegeheim besucht; leider gibt es keine Ver?nderung, was ihren Zustand betrifft. Sie hat mich gar nicht mehr richtig erkannt. Aber vergiss nie, wie sehr sie dich liebt. Und ich dich auch, mein M?uschen.
Sei tapfer, arbeite fleißig und mache deinen alten Dad stolz.
Ich kämpfte gegen den Kloß in meiner Kehle an und fühlte mich ganz und gar nicht tapfer. Eine Krähe kreischte über mir. Ich hob den
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