Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit
dich.«
Vorsichtig versuchte ich mich aufzusetzen. Ich befand mich in einem kahlen, weißen Raum, den ich vorher noch nie gesehen hatte.
»Wo …?«
»Du bist im Krankenzimmer, im Krankentrakt«, erklärte Miss Scratton. »Eines der jüngeren Mädchen hat dich auf dem Boden vor dem Mathe-Raum gefunden. Was ist passiert?«
Ich zögerte, dann sah ich zur Seite. »Ich weiß es nicht.«
»Nun, wir können das auf die Dauer nicht einfach so hinnehmen, dass du immer wieder ohnmächtig wirst«, sagte sie kurz angebunden. »Es muss eine Erklärung dafür geben.«
»Ich glaube nicht, dass sie irgendetwas Gravierendes hat, Miss Scratton«, mischte sich der Doktor ein. »Ihr Blutdruck ist normal. Aber wie man hört, hat es im Leben dieser Patientin einige heftige Veränderungen gegeben, und zweifellos kämpft sie sehr und vermisst ihr Zuhause. Sie braucht frische Luft und Bewegung.« Er wandte sich an mich und fragte: »Kannst du reiten? Davon würdest du etwas Farbe auf die Wangen bekommen.«
Ich schüttelte den Kopf und krächzte: »Ich schwimme gern.«
»Du schwimmst gern? Das ist hervorragend! Ich bin sicher, dass da was zu machen ist. Es gibt doch ein Schwimmbecken auf dem Schulgelände, oder nicht, Miss Scratton?«
»Das ist nur in der Sommerzeit mit Wasser gefüllt.«
Dr. Harrison knurrte unzufrieden und stand dann auf, um zu gehen. »Ich lasse dir ein paar Vitamintabletten hier, die du nehmen solltest, junge Lady. Und dass du mir bloß keine Mahlzeit ausfallen lässt!«
Er lächelte zum Abschied und ging aus dem Zimmer. Miss Scratton folgte ihm. Ich ließ mich wieder zurückfallen und sank dankbar auf das kühle Kissen. Was war in dem Korridor wirklich geschehen? Wer war das Mädchen in Weiß? War sie in irgendeiner Weise mit Laura verbunden? Und der Junge — er war auch da gewesen, neben mir, dicht genug, um ihn anfassen zu können.
Eine Woge der Übelkeit schwappte über mich hinweg. Ich wandte mein Gesicht zur Wand und schloss die Augen. Es war lächerlich, mir Gedanken um Leute zu machen, die ich nie wiedersehen würde.
Und wer waren sie letztlich auch? Ein Junge, dem ich nur einmal begegnet war und den ich vermutlich nie wiedersehen würde. Ein totes Mädchen auf einem Foto. Ein nicht vorhandenes rothaariges Mädchen, das meiner Einbildung entsprungen war. Es war armselig. Ich verhielt mich wie ein trauriges, verrücktes Kind, das so verzweifelt jemanden zum Reden suchte, dass ich mir verrückte unsichtbare Freunde ausgedacht hatte. Ich war dumm, dumm, dumm. Ich brauchte niemanden.
Aber wie sehr ich mir das auch einzureden versuchte, in meinem Herzen wusste ich, dass es nicht stimmte. Ich brauchte irgendeine Art von zwischenmenschlichem Kontakt, auch wenn es nur in Träumen und Illusionen war. Zum ersten Mal in meinem Leben gestand ich mir ein, dass ich mich auf schmerzhafte Weise allein fühlte. Celeste und die anderen selbstsicheren und selbstgefälligen Mädchen auf Wyldcliffe hatten nur zu deutlich gemacht, dass ich hier nicht erwünscht war. Vielleicht hätte ich mir mehr Mühe geben sollen, mich mit Helen anzufreunden, aber da war etwas an ihr, das mir irgendwie Angst machte. Und dann war da noch Sarah. Ich mochte Sarah wirklich, aber sie schien mit ihren Pferden und ihrem Garten vollkommen glücklich zu sein. Sie brauchte mich nicht. Niemand brauchte mich. Ich war allein.
Und während ich das kleine Fläschchen mit den Tabletten des Doktors festhielt, wusste ich, dass mehr als nur ein paar Vitamine nötig waren, um mein gequältes Herz zu heilen.
Elf
Das Tagebuch von Lady Agnes,
30. September 1882
Der Leser muss sich bewusst sein, dass der Mystische Pfad ein Weg der Heilung ist, nicht der Dunkelheit. Irrtümlicherweise wird er von manchen aufgrund mangelnder Kenntnisse und geschmackloser Vorurteile als gewöhnliche Hexerei bezeichnet, doch das ist er nicht. Allerdings dürfen jene, die wahrhaft den Weg beschreiten, die Macht weder um ihrer selbst willen suchen noch um anderen Lebewesen Schaden zuzufügen …
So steht es in dem Buch geschrieben. Jetzt weiß ich, was meine Bestimmung ist. Ich werde den Mystischen Weg beschreiten und eine große Heilerin werden. Wie S. gesagt hatte – wie viel Gutes können wir bewirken? In der Welt gibt es so viel Schmutz und Krankheit und Unwissenheit, die geheilt und ausgerottet werden müssen. Selbst ich, die ich in diesem behüteten Tal aufgewachsen bin, weiß von den
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