Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit
Blick. Das Gemäuer und die Moors und der bedrohliche Himmel kamen mir plötzlich unglaublich einsam und trostlos vor. Was hältst du von Wyldcliffe? Um ehrlich zu sein, Dad, ich fange an, es zu hassen… Aber das würde ich ihm nie schreiben. Ich musste irgendwie damit klarkommen, wie Helen gesagt hatte.
Ich schnäuzte mir die Nase, sprang auf und stellte erschrocken fest, dass die anderen Mädchen nicht mehr auf der Terrasse waren. Sie mussten bereits für die nächste Unterrichtsstunde reingegangen sein. Ich lief übers feuchte Gras und glitt durch eine der Seitentüren ins Haus. Niemand war zu sehen. Ich suchte in meinen Taschen nach dem Zeitplan und der Orientierungskarte, die ich überall mit mir herumschleppte.
Sie war weg. Ich fand sie nicht. Ich würde zu spät kommen, ich würde schon wieder in Schwierigkeiten geraten, und Dad würde davon erfahren …
Mathe. Das war es. Ich war sicher, dass wir als Nächstes Mathe bei Miss Raglan hatten, der grauhaarigen Lehrerin, die so wütend auf mich gewesen war. Und ich erinnerte mich auch, dass sich der Mathe-Raum im vorderen Teil des Gebäudes befand, in einem der großen alten Räume bei der Bibliothek. Dazu musste ich lediglich zur Marmortreppe gehen, dann war ich fast schon da. Allerdings musste ich mich beeilen. Miss Raglan zählte sicherlich zu den Lehrerinnen, die mir eine Verwarnung verpassen würden, wenn ich zu spät kam.
Ich schritt durch die verlassenen Korridore. Sämtliche Schülerinnen befanden sich in den Klassenräumen, nur ich nicht. Das ganze Haus wirkte still und gedämpft. Schließlich kam ich bei dem richtigen Zimmer an. Ja, das war es, glücklicherweise. Ich öffnete die Tür.
Aber es war nicht das Zimmer von Miss Raglan. Es war nicht einmal ein Klassenzimmer, sondern irgendeine Art von unordentlichem Wohnzimmer, das mit schweren Möbelstücken und Vasen und goldgerahmten Portraits vollgestopft war. Ein knochiges junges Mädchen mit einem verschmierten Gesicht und einem schwarzen Kleid machte den Kamin sauber. Ich schlug die Tür zu und sah mich verzweifelt um. Plötzlich erkannte ich auch die kunstvollen Gemälde an den Flurwänden nicht wieder, genauso wenig wie den roten Teppich. Ich hatte mich vollkommen verirrt.
Okay, okay , dachte ich, versuch einfach nur, zu Miss Scrattons Zimmer zu kommen, du musst dich doch noch daran erinnern, wie du da hinfindest. Sag ihr einfach, dass du den Weg nicht gefunden hast, und bitte sie um einen neuen Plan.
Bevor ich mich rühren konnte, hörte ich hinter mir ein leises Geräusch. Und dann sah ich sie wieder, dieses Mädchen in Weiß. Sie entfernte sich von mir, ging mit einem Bündel regenbogenfarbener Seide in den Händen den Korridor entlang. Ohne nachzudenken, folgte ich ihr, als wäre es ein Traum, und die ganze Zeit über konnte ich das Swisch-Swisch-Swisch ihres langen Kleides hören.
»He, warte!«, versuchte ich zu rufen. Sie blieb stehen und drehte sich um, sah mich mit gerunzelter Stirn über die Schulter hinweg an. Der Boden unter meinen Füßen fühlte sich an, als würde er jeden Moment nachgeben, und die verschiedenen Farben der Seide in ihren Händen vermischten sich zu einem seltsamen Kaleidoskop, als hätte die ganze Welt angefangen, sich zu drehen. Ich sah ihr blasses Gesicht in den fließenden Schatten; dann verwandelte es sich in den schrecklich toten Blick der armen, ertrunkenen Laura. Ich begann, nach Atem zu ringen, als die Dunkelheit wieder nach mir griff. Dann stürzte ich, und niemand konnte mich retten, niemand außer einem dunkelhaarigen Jungen, der unter den Sternen stand und lachte. Ich spürte seinen kühlen Atem auf meiner Wange, sah seine wilden blauen Augen und hörte seine Stimme: Ich habe dir das Leben gerettet … wir werden uns wiedersehen. Die verblassende Narbe auf meiner Hand pochte so leicht wie ein Puls. »Wo bist du?«, rief ich. »Wer bist du?« Aber er lachte nur und murmelte: Evie … Evie …
»Evie! Evie!« Ein Fremder rief mich. Mir platzte fast der Schädel vor Schmerz, und ich fühlte mich elend. Ich musste mich anstrengen, um auch nur die Augen zu ?ffnen. Ein Mann mit goldgerandeter Brille beugte sich ?ber mich. Panik ?berkam mich, und ich versuchte, ihn von mir wegzusto?en.
»Das ist Dr. Harrison, Evie.« Miss Scrattons verhärmtes Gesicht schob sich in mein Blickfeld, als sie sich über dem Arzt zu mir beugte. Sie musterte mich eindringlich. »Du bist schon wieder ohnmächtig geworden. Wir machen uns Sorgen um
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