Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit
persönlich, zu wertvoll für mich. Der silberne Anhänger glänzte mit hypnotischer Kraft in meiner Hand. Dies war meine letzte Verbindung zu Frankie. Ihr Gesicht blitzte in meinem Geist auf, und plötzlich kam es mir unendlich wichtig vor, mich von ihrem kleinen Andenken nicht zu trennen.
Ich kramte in der Schublade herum, schnappte mir ein Nachthemd, in dessen Kragenrand eine schöne, weiße Schnur eingefädelt worden war, und zog das Band heraus. Dann nahm ich den Anhänger von der Kette ab und hängte ihn stattdessen an das Band. Wenige Sekunden später hatte ich es mir um den Hals gebunden und das Ganze unter meine Bluse gesteckt. Ich betrachtete mich im Spiegel. Von der Kette war jetzt nichts mehr zu sehen. Mrs. Hartle w?rde niemals merken, dass ich den Anh?nger nach wie vor trug.
Ich raste wieder nach unten und kam gerade noch rechtzeitig im Speisesaal an, als die letzten Mädchen ihre Plätze einnahmen. Es gelang mir, einen Platz neben Sarah zu ergattern. Ich musste mich zusammenreißen, um sie nicht dümmlich anzugrinsen. Obwohl es eigentlich banal war, fühlte ich mich ungeheuer gut dabei, dass ich mich Mrs. Hartle widersetzt hatte.
Als ich nach dem Frühstück den Speisesaal verlassen wollte, wurde ich von Miss Scratton aufgehalten. »Ich hoffe, dieser Tag verläuft erfolgreicher für dich, Evie«, sagte sie mit ihrer trockenen, schroffen Stimme.
»Oh. Ich bin sicher, dass es mir gut gehen wird.«
Sie trat näher.
»Wer weiß schon, was uns am nächsten Tag erwartet? Versuch einfach, nicht in Schwierigkeiten zu geraten.« Der Blick ihrer Knopfaugen schoss an mir auf und ab, und verrückterweise fragte ich mich, ob sie vielleicht Frankies Anhänger unter meinem Hemd sehen konnte. Aber so etwas wäre absurd gewesen.
»Du wirst dich schnell an unsere Bräuche gewöhnen«, sagte Miss Scratton weiter. »Ich hoffe, dass du dich in Wyldcliffe schon bald wie zu Hause fühlen wirst. Für viele der Mädchen ist es im Laufe der Jahre ein Zuhause geworden. « Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Auch konnte ich Sarah nicht mehr sehen und musste zu meiner Klasse. Also lächelte ich Miss Scratton schwach an, und in der Hoffnung, dass sie mit mir fertig war, schoss ich davon.
Unter den Mädchen, die im Korridor standen, schien niemand aus meiner Klasse zu sein, also sah ich auf den Stundenplan, den man mir in die Hand gedr?ckt hatte. Es war ein Dienstag, und demzufolge hatten wir in der ersten Stunde Sport. Auf der R?ckseite war eine Karte der Schule abgebildet. Nachdem ich ein paar Mal in den endlos scheinenden G?ngen falsch abgebogen war, fand ich endlich den Umkleideraum. Die anderen aus meiner Klasse zogen sich bereits f?r den Sportunterricht um. Lacrosse stand heute auf dem Plan, wie ich an der Ausr?stung erkennen konnte.
»He, Evie, hast du deine Sportsachen dabei?«, fragte Sarah. Ich schüttelte den Kopf.
»Dad hat zwar alles bestellt, aber als ich von zu Hause abgefahren bin, war noch nichts angekommen. Die Leute vom Geschäft haben gesagt, dass sie die Sachen hierherschicken würden.«
»Dann solltest du das Miss Schofield sagen, wenn wir auf den Platz gehen. Komm, beeilen wir uns. Du willst doch bestimmt nicht – «
»Schon wieder Ärger kriegen?« Ich lächelte. »Ja, ich weiß.«
Wir strömten mit den anderen durch die Seitentür nach draußen und folgten einem Weg, der vom Schulgebäude aus zum Sportplatz führte.
Es war ein trüber Tag, und der Himmel war schmutziggrau. In der Ferne waren die Moors zu sehen, die sich wie eine graubraune Decke bis zum Horizont erstreckten. Rechts von uns ragten die Überreste der Kapelle in den Himmel, zerstückelt und durchbrochen und doch selbst in diesem matten Licht atemberaubend. Die anderen beachteten sie jedoch nicht weiter, sondern unterhielten sich miteinander, bis wir den Sportplatz und die Tennispl?tze erreichten, die sich hinter einer Baumreihe verbargen.
Miss Schofield, die Sportlehrerin, wartete ungeduldig auf uns.
»Los, los, los, trödelt nicht so rum!«, brüllte sie. »Lauft zum Aufwärmen um den Platz.« Immerhin wirkte sie jünger als einige der anderen Lehrerinnen – oder der Mistresses, wie Sarah gesagt hatte, dass wir sie nennen sollten – , aber sie klang verärgert. »Du da, die Neue – komm mal her. Wieso trägst du keine Sportkleidung?«
Ich erklärte ihr, was geschehen war. Einen Moment lang dachte ich, sie würde vor Wut platzen, aber dann brüllte sie: »Lauf zur
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