Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit
Sarah musterte mich forschend, auf die gleiche Weise, wie Miss Scratton es getan hatte.
»Evie …« Sie zögerte, während sie sich neben mir niederließ. »Ich weiß, dass das seltsam klingt, aber ich habe das Gefühl, dass etwas mit dir vorgeht. Hast du irgendwelche Schwierigkeiten?«
»Es geht mir ausgezeichnet. Ich möchte einfach nur mal fünf Minuten allein sein, ohne dass mich irgendjemand nervt und anglotzt, als wäre ich ein Freak.«
»Du bist aber nicht allein, oder? Ich kann das erkennen. «
»Du kannst gar nichts an mir erkennen! Niemand von euch kann das!« Meine ganze Wut auf Wyldcliffe brach unkontrolliert aus mir heraus. »Für dich ist das Leben großartig, mit deinen Pferden und deiner Familie und deinem Geld und deinem ›Ich bin nicht wie sie‹. Nun, du bist auch nicht wie ich! Du weißt nichts über mich oder mein Leben, also lass mich allein!«
Kaum hatte ich diese Worte ausgespuckt, bedauerte ich sie auch schon. Sarah schien verletzt zu sein, und sie nahm ihre Bücher und setzte sich an einen anderen Tisch. Jetzt kamen auch die anderen aus unserer Klasse. Ich warf Sarah einen flehenden Blick zu, mit dem ich versuchte ihr zu zeigen, dass es mir leidtat, aber sie sah absichtlich in eine andere Richtung und begann mit einem Mädchen namens Rosie zu sprechen.
Was immer ich auch in Wyldcliffe tat, schien danebenzugehen.
Siebzehn
S arah machte sich danach nicht mehr die Mühe, sich mir zu nähern. Ich fühlte mich schlecht, aber ich wurde gut darin, meine Gefühle zu verbergen. Ich beachtete sie nicht weiter, und sie beachtete mich nicht. Ich sagte mir, dass meine Versuche, in Wyldcliffe Freunde zu finden, damit beendet waren. Und so überstand ich die Tage wie ein Zombie. Sport, Schularbeiten, Chor, gute Noten – nichts davon war wichtig. Mein Leben spielte sich nachts ab, in diesen kostbaren Momenten mit Sebastian.
Ich träumte nicht mehr von Laura. Ich hatte keine Ohnmachtsanfälle mehr und auch keine verrückten ›Visionen‹ von dem rothaarigen Mädchen. Vielleicht war es mir jetzt, da ich einen wirklichen Menschen in meinem Leben hatte, möglich, auch ohne meine Fantasien zu leben.
»Warte auf mich!«
Wir liefen im Mondlicht über das nasse Gras. Sebastian rannte mir mühelos ein Stück voraus und erreichte die mit Efeu bewachsene Mauer, die das Klostergrundstück umgab, noch vor mir.
»Du hast gemogelt!« Ich keuchte, als ich ihn eingeholt hatte.
»Wieso habe ich gemogelt?« Er lachte.
»Deine Beine sind länger als meine.«
»Das kannst du mir wohl kaum vorwerfen!«
»Warum sind wir eigentlich hier?«, fragte ich und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
»Wir laufen weg. Dazu müssen wir über die Mauer klettern. «
Er packte eine dicke Efeurebe und zog sich auf die Mauer hoch. Dann reichte er mir die Hand, um mir zu helfen, ebenfalls hinaufzukommen.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das überhaupt will«, sagte ich, als ich plötzlich von Gewissensbissen befallen wurde. Es war schlimm genug, dass ich mich nachts nach draußen stahl, aber wenn mich auch noch jemand dabei erwischte, wie ich das Gelände verließ …
»Bitte, Evie.« Er wurde plötzlich ernst. »Ich muss mit dir über etwas sehr Wichtiges reden, aber zuerst muss ich von hier wegkommen. Ich schwöre dir, dass du nicht in Schwierigkeiten geraten wirst. Ich passe auf dich auf.«
Er pfiff leise, und seine schwarze Stute tauchte wie ein Schatten ein Stück weiter vorn auf dem Weg auf. Ein paar Minuten später saß ich nervös auf dem ungesattelten Pferderücken.
»Du musst dich an mir festhalten.«
Ich schlang meine Arme um seine Taille, mir nur zu sehr der Nähe seines geschmeidigen Körpers bewusst. Das Pferd begann, behutsam den Weg entlangzugehen. Ich schloss die Augen und nahm Sebastians Anwesenheit mit jedem Atemzug tief in mich auf, während ich mich gleichzeitig zu überzeugen versuchte, dass das hier tatsächlich geschah. Es schien wie ein Traum: das große schwarze Pferd, die Sterne, das Beben, das mich durchlief, als eine Strähne von Sebastians dunklen Haaren über mein Gesicht wehte. Das werde ich nie vergessen, dachte ich. Was immer mit mir geschieht, diesen Moment werde ich nie vergessen.
Wir begannen, das ansteigende Gelände zu erklimmen.
»Wohin reiten wir?«
»Zum alten Wachturm. Wie es heißt, gehörte er zur Zeit der Sachsen mal zu einer Festung. Er ist sogar noch älter als die
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